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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sagte ich jedes Mal: »Meine Eltern sind nach Afrika gegangen, um zu
arbeiten
«, wenn jemand in diesem Haus davon sprach, dass sie sich davongemacht hatten. Dann wurde ich es leid, sie zu verbessern.)
    Heimstatt war das Wort. »Die wichtigste Aufgabe einer Frau ist es, ihrem Mann eine Heimstatt zu bereiten.«
    Sagte Tante Dawn das tatsächlich? Ich glaube nicht. Sie scheute sich vor Sentenzen. Ich habe das wahrscheinlich in einer der Hausfrauenzeitschriften gelesen, die ich dort vorfand. Und die bei meiner Mutter Brechreiz auslösten.
     
     
    Als Erstes erkundete ich die Stadt. Hinten in der Garage fand ich ein schweres altes Fahrrad und fuhr damit los, ohne daran zu denken, um Erlaubnis zu fragen. Als ich auf einer frisch geschotterten Straße über dem Hafen bergab rollte, verlor ich die Kontrolle. Ich schrammte mir ein Knie böse auf, und ich musste meinen Onkel in seiner Praxis neben dem Haus aufsuchen. Er versorgte fachmännisch die Wunde. Er war ganz der behandelnde Arzt, sachlich mit einer Sanftheit, die vollkommen unpersönlich war. Keine Scherze. Er sagte, er könne sich gar nicht daran erinnern, woher das Fahrrad stammte – ein heimtückisches altes Monstrum, und wenn mir viel daran lag, Fahrrad zu fahren, sollten wir schauen, mir ein anständiges zu besorgen. Als ich mich in meiner neuen Schule besser auskannte, auch mit den Regeln über das, was Mädchen dort taten, nachdem sie die Pubertät erreicht hatten, wurde mir klar, dass Radfahren gar nicht in Frage kam, also wurde nichts daraus. Was mich überraschte, war, dass mein Onkel keinerlei Fragen des Anstandes oder dessen, was Mädchen tun sollten und was nicht, zur Sprache brachte. Er schien in seiner Praxis vergessen zu haben, dass ich eine Person war, die in vieler Hinsicht zurechtgebogen werden musste oder die dazu angehalten werden musste, besonders am Esstisch, sich das Benehmen ihrer Tante Dawn zum Vorbild zu nehmen.
    »Du bist ganz alleine da raufgefahren?«, fragte sie nur, als sie davon erfuhr. »Was hattest du denn da zu suchen? Keine Sorge, du wirst bald ein paar Freundinnen haben.«
    Sie hatte recht, sowohl mit dem Erwerb von Freundinnen als auch damit, wie das die Dinge, die ich tun konnte, einschränken würde.
    Onkel Jasper war nicht einfach ein Arzt, er war
der
Arzt. Er war die treibende Kraft hinter der Errichtung des städtischen Krankenhauses gewesen und hatte sich dagegen gewehrt, dass es nach ihm benannt wurde. Er war als armer, aber intelligenter Junge aufgewachsen und hatte als Lehrer gearbeitet, bis er sich das Medizinstudium leisten konnte. Er hatte in der Küche von Farmhäusern Babys auf die Welt geholt und Blinddärme operiert, nachdem er durch Schneestürme gefahren war. Sogar in den fünfziger und sechziger Jahren hatten sich solche Dinge noch zugetragen. Er stand in dem Ruf, nie aufzugeben, Fälle von Blutvergiftung und Lungenentzündung anzupacken und die Patienten zu retten zu einer Zeit, als die neuen Medikamente noch völlig unbekannt waren.
    Dennoch wirkte er, im Gegensatz zu seinem Verhalten zu Hause, in der Praxis sehr umgänglich. Als wäre im Haus eine ständige Aufsicht notwendig, die in der Praxis nicht erforderlich war, obwohl man meinen sollte, dass es eigentlich umgekehrt hätte sein müssen. Die Krankenschwester, die dort arbeitete, behandelte ihn nicht einmal mit besonderer Ehrerbietung – sie war völlig anders als Tante Dawn. Sie steckte den Kopf zur Tür des Zimmers herein, in dem er meine Schürfwunde behandelte, und sagte, dass sie früher nach Hause ging.
    »Sie müssen ans Telefon gehen, Dr. Cassel. Sie wissen doch, ich hab’s Ihnen gesagt?«
    »Mmmhmm«, antwortete er.
    Natürlich war sie alt, vielleicht über fünfzig, und Frauen dieses Alters hatten oft etwas Gebieterisches an sich.
    Was ich mir bei Tante Dawn überhaupt nicht vorstellen konnte. Sie schien in einer rosigen und schüchternen Jugend zu verharren. Am Anfang meines Aufenthalts, als ich dachte, ich hätte das Recht, überall hinzugehen, war ich in das Schlafzimmer meiner Tante und meines Onkels gegangen, um mir ein Foto von ihr auf seinem Nachttisch anzuschauen.
    Die sanften Züge und das dunkle wellige Haar hatte sie immer noch. Aber eine unkleidsame rote Kappe bedeckte einen Teil des Haars, und sie trug ein violettes Cape. Als ich herunterkam, fragte ich sie, was das für ein Kostüm war, und sie sagte: »Welches Kostüm? Ach so. Das war meine Tracht als Lernschwester.«
    »Du warst Krankenschwester?«
    »Nein, nein.« Sie

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