Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
ihres Mannes. O 7 ½. Sie braucht eine Weile, um das zu entziffern, dass die Null also für das hastig hingeschriebene O von Olivia steht. Sie kann sich nur dunkel daran erinnern, Pantoffeln gekauft zu haben, als Olivia im Krankenhaus lag.
Das nutzt ihr ohnehin nichts.
Kann sein, dass der Arzt, den sie aufsuchen soll, erst vor kurzem in dieses Haus gezogen ist und dass der Name auf der Tür noch nicht geändert worden ist. Sie muss jemanden fragen. Als Erstes muss sie klingeln, für den Fall, dass jemand Überstunden macht und noch da ist. Das tut sie, und es ist eigentlich ganz gut, dass ihr niemand aufmacht, denn der Name des Arztes, zu dem sie muss, ist ihr im Moment entfallen.
Eine andere Idee. Ist es nicht gut möglich, dass dieser Doktor – der Irrenarzt, wie sie ihn bereits im Stillen nennt –, wäre es nicht gut möglich, dass er (oder sie – wie die meisten Menschen ihres Alters zieht sie diese Möglichkeit nicht automatisch in Betracht), dass er oder sie in Privaträumen praktiziert? Es wäre sinnvoll und billiger. Man braucht nicht viele Geräte für das Verarzten von Irren.
Also setzt sie ihren Spaziergang abseits der Hauptstraße fort. Der Name des fraglichen Arztes ist ihr inzwischen wieder eingefallen, wie es solche Dinge zu tun pflegen, sobald sie nicht mehr unter Druck steht. Die Häuser, an denen sie vorbeigeht, wurden fast alle im neunzehnten Jahrhundert erbaut. Einige aus Holz, andere aus Ziegeln. Die aus Ziegeln haben oft ein volles Obergeschoss, die aus Holz sind etwas bescheidener, nur ein halbes Obergeschoss mit schrägen Decken in den oberen Räumen. Manche Haustüren sind nur ein bis zwei Meter vom Bürgersteig entfernt. Andere haben eine breite Veranda vor sich, die hin und wieder verglast ist. Vor hundert Jahren hätten an einem Abend wie diesem die Leute auf ihrer Veranda gesessen oder vielleicht auf den Stufen vor der Tür. Hausfrauen, die mit dem Abwasch fertig waren und zum letzten Mal an dem Tag die Küche gefegt hatten, Männer, die nach gründlicher Wässerung des Rasens den Gartenschlauch aufgerollt hatten. Keine Gartenmöbel standen so wie heute leer und protzend herum. Nur die Holzstufen oder herausgetragene Küchenstühle. Gespräche über das Wetter oder ein entlaufenes Pferd oder jemanden, der das Bett hüten muss und sich wahrscheinlich nicht wieder erholen wird. Vermutungen über sie selbst, sobald sie außer Hörweite ist.
Aber hätte sie da nicht schon mit ihnen gesprochen, wäre stehen geblieben und hätte gefragt: Bitte, können Sie mir sagen, wo das Haus des Arztes ist?
Neues Gesprächsthema: Wozu braucht die den Arzt?
(Diese Frage hat sie selbst schon einmal außer Hörweite gestellt.)
Jetzt sitzen alle Leute im Haus, wo ihre Ventilatoren oder Klimaanlagen laufen. Die Häuser haben Nummern, geradeso wie in einer Großstadt. Keine Spur von einem Arzt.
Der Bürgersteig endet vor einem großen Backsteingebäude mit Giebeln und einem Uhrenturm. Vielleicht eine Schule, bis die Kinder mit dem Bus zu einem größeren und öderen Schulzentrum gefahren wurden. Die Zeiger zeigen auf zwölf, Mittag oder Mitternacht, was bestimmt nicht die richtige Uhrzeit ist. Eine Fülle von Sommerblumen, die nach einer geschickten gärtnerischen Hand aussehen – einige sprießen aus einer Schubkarre, andere aus einem Melkeimer daneben. Ein Schild, das sie nicht lesen kann, weil die Sonne darauf scheint. Sie steigt auf den Rasen, um es sich aus anderem Winkel anzuschauen.
Bestattungsinstitut. Jetzt sieht sie die angebaute Garage, die wahrscheinlich den Leichenwagen beherbergt.
Nun gut. Sie sollte besser voranmachen.
Sie geht in eine Seitenstraße mit sehr gepflegten Anwesen, die beweisen, dass sogar eine Kleinstadt dieser Größe ihr Villenviertel haben kann. Die Häuser sind alle ein wenig verschieden, sehen aber irgendwie gleich aus. Blasser Stein oder helle Ziegel, Fenster mit Spitz- oder Rundbögen, eine Absage an die Zweckmäßigkeit, den Farmhaus-Stil vergangener Jahrzehnte.
Hier sind Menschen zu sehen. Sie haben sich nicht alle in ihren Häusern mit ihren Klimaanlagen eingeschlossen. Ein Junge sitzt auf einem Fahrrad, fährt im Zickzack über die Straße. Etwas an seiner Fahrt ist seltsam, aber sie kommt nicht gleich darauf, was.
Er fährt rückwärts. Das ist es. Eine Jacke, so umgehängt, dass man – oder sie – nicht gleich sehen kann, was falsch ist.
Eine Frau, die vielleicht ein bißchen zu alt ist, um seine Mutter zu sein – die aber trotzdem
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