Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
als Antwort erwartet. »Ihr Verstand. Ausgerechnet bei Ihnen!«
(Nicht, dass die Ärztin sie so gut kennt, doch immerhin haben sie gemeinsame Bekannte.)
Stattdessen ruft die Sprechstundenhilfe der Ärztin einen Tag später an, um mitzuteilen, dass das Rezept bereitliegt und dass für die Frau – sie heißt Nancy – ein Termin gemacht worden ist, für eine Untersuchung ihres Problems mit dem Verstand bei einem Spezialisten.
Es ist nicht der Verstand. Nur das Gedächtnis.
Wie auch immer. Der Spezialist behandelt ältere Patienten.
Ah ja. Ältere Patienten mit weicher Birne.
Die Sprechstundenhilfe lacht. Endlich lacht mal jemand.
Sie sagt, dass die Praxis des Spezialisten sich in einem kleinen Ort namens Hymen befindet, ungefähr zwanzig Meilen von Nancys Wohnort entfernt.
»Oh je, ein Ehespezialist«, sagt Nancy.
Die Sprechstundenhilfe begreift nicht, fragt: »Wie bitte?«
»Schon gut, ich werde hinfahren.«
Die Spezialisten haben sich im Laufe der letzten Jahre überallhin ausgebreitet. Der Computertomograph steht in der einen Stadt, der Onkologe ist in einer anderen, der Lungenfacharzt in einer dritten, und so weiter. Alles nur, damit man nicht bis in das Großstadtklinikum fahren muss, dabei kann es genauso viel Zeit in Anspruch nehmen, da nicht alle diese Kleinstädte Krankenhäuser haben und man sich dann mühsam bis zu der Arztpraxis durchfragen muss.
Aus diesem Grund beschließt Nancy, am Abend vor ihrem Termin in die Kleinstadt des Seniorenspezialisten – wie sie ihn zu nennen beschließt – zu fahren. Das soll ihr genug Zeit geben, um seine Praxis ausfindig zu machen, damit sie nicht völlig aufgelöst oder sogar zu spät dort ankommt und von Anfang an einen schlechten Eindruck macht.
Ihr Mann könnte sie begleiten, aber sie weiß, dass er sich das Fußballspiel im Fernsehen ansehen möchte. Er ist Wirtschaftswissenschaftler, der die halbe Nacht lang Sportsendungen guckt und dann den Rest der Nacht über an seinem Buch arbeitet, obwohl er ihr aufgetragen hat, zu sagen, er sei im Ruhestand.
Sie sagt, sie möchte die Praxis alleine finden. Die Sprechstundenhilfe hat ihr eine Wegbeschreibung zu dem Ort gegeben.
Der Abend ist schön. Aber als sie von der Autobahn nach Westen abbiegt, steht die Sonne schon so tief, dass sie ihr ins Gesicht scheint. Wenn sie sich jedoch gerade aufsetzt und das Kinn hebt, sind ihre Augen im Schatten. Außerdem hat sie eine gute Sonnenbrille. Sie kann das Schild lesen, auf dem steht, dass es noch acht Meilen sind bis zu der Ortschaft Highman.
Highman. Das war es also, doch kein Witz. 1553 Einwohner.
Warum machen sie sich die Mühe, auch noch die 3 hinzuschreiben?
Jede Seele zählt.
Sie hat die Angewohnheit, nur zum Spaß kleine Ortschaften zu erkunden, um zu schauen, ob sie dort leben könnte. Diese scheint in Frage zu kommen. Ein vernünftiger Supermarkt, wo man einigermaßen frisches Gemüse bekommt, wenn auch wahrscheinlich nicht von den Feldern ringsum, Kaffee genießbar. Dann ein Waschsalon und ein Drugstore, wo man seine Rezepte einlösen kann, obwohl er die besseren Zeitschriften bestimmt nicht führt.
Es gibt natürlich Anzeichen dafür, dass der Ort bessere Tage gesehen hat. Eine Uhr, die nicht mehr funktioniert, thront über einem Schaufenster, das Edlen Schmuck verspricht, aber jetzt nichts weiter vorzuweisen hat als irgendwelches alte Porzellan und Steingut, alte Eimer und aus Draht gewundene Kränze.
Sie kommt dazu, diesen Krempel zu betrachten, weil sie sich entschieden hat, vor dem Laden, der ihn zur Schau stellt, zu parken. Sie denkt, sie kann die Praxis dieses Arztes genauso gut zu Fuß suchen. Und fast zu früh, um ihr Genugtuung zu verschaffen, sieht sie ein zweigeschossiges Haus aus dunklem Backstein, erbaut im zweckmäßigen Stil des zu Ende gegangenen Jahrhunderts, und könnte wetten, das ist sie. Ärzte in Kleinstädten hatten früher ihre Praxisräume in einem Teil ihres Wohnhauses, aber dann brauchten sie Platz für parkende Autos und richteten sich in so etwas wie dem hier ein. Rotbrauner Backstein, und da ist auch schon das Schild, Arzt/Zahnarzt. Ein Parkplatz hinter dem Haus.
In der Tasche hat sie einen Zettel mit dem Namen des Arztes, und sie holt ihn heraus, um sich zu vergewissern. Die Namen auf der Milchglastür lauten Dr. H.W. Forsyth, Zahnarzt, und Dr. Donald McMillen, Arzt.
Diese Namen stehen nicht auf Nancys Zettel. Kein Wunder, denn darauf steht nur eine Zahl. Es ist die Schuhgröße der verstorbenen Schwester
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