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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht über mich. Ich fröstelte und zitterte. Ich schloss die Tür ab und legte mich voll angekleidet ins Bett und zitterte immer noch, also zog ich mir die Decken bis an die Ohren.
    Als ich aufwachte, war der Nachmittag schon fortgeschritten und meine Kleidung klebte an mir vor Schweiß. Ich drehte die Heizung ab und fand im Koffer frische Sachen, die ich anzog, dann ging ich hinaus. Ich lief sehr schnell. Ich war hungrig, hatte aber das Gefühl, nie und nimmer langsamer gehen oder mich hinsetzen zu können, um etwas zu essen.
    Was mir passiert war, dachte ich, war nicht ungewöhnlich. Weder in Büchern noch im Leben. Vielleicht gab es – bestimmt gab es eine gut erprobte Methode, damit umzugehen. So zu laufen natürlich. Aber man musste stehen bleiben, sogar in einer Kleinstadt wie dieser musste man wegen Autos und roter Ampeln stehen bleiben. Außerdem liefen viele so ungeschickt herum, blieben stehen, gingen weiter, und dann noch Scharen von Schulkindern wie die, die ich früher in Schach gehalten hatte. Warum so viele davon und so idiotische mit ihrem Gekreisch und Gebrüll und der Überflüssigkeit, der schieren Unnotwendigkeit ihrer Existenz. Überall sprang einem eine Beleidigung ins Gesicht.
    So, wie die Läden und ihre Schilder eine Beleidigung waren und der Lärm der Autos mit ihrem Abbremsen und Anfahren. Überall diese Behauptung, das hier ist Leben. Als ob wir das brauchten, noch mehr Leben.
    Da, wo die Läden schließlich aufhörten, standen kleine Ferienhäuschen. Leer, Bretter vor die Fenster genagelt, warteten sie auf den Abriss. Wo Leute einmal bescheidenen Urlaub verbracht hatten, bevor die Motels aufkamen. Und dann erinnerte ich mich, dass auch ich dort gewesen war. Ja, in einem dieser Ferienhäuschen, als sie verbilligt waren – vielleicht außerhalb der Hauptsaison –, verbilligt, um Nachmittagssünder aufzunehmen, und dazu hatte ich gehört. Ich war damals noch in der Lehrerausbildung, und nur durch irgendetwas an diesen vernagelten Ferienhäuschen erinnerte ich mich nun überhaupt daran, dass es in dieser Stadt war. Der Mann ein Lehrer, älter. Eine Frau zu Hause, zweifellos Kinder. Menschenleben, in die man eingriff. Sie durfte nichts davon erfahren, es würde ihr das Herz brechen. Was mir völlig egal war. Sollte es doch brechen.
    Ich hätte mich an mehr erinnern können, wenn ich mir Mühe gegeben hätte, aber es lohnte nicht. Nur dass es meine Schritte zu einem normaleren Tempo verlangsamte und zum Motel zurücklenkte. Und dort auf der Kommode lag der Brief, den ich geschrieben hatte. Zugeklebt, aber ohne Briefmarke. Ich ging wieder hinaus, fand das Postamt, kaufte eine Briefmarke und warf den Brief dort ein, wo er hingehörte. Kaum irgendein Gedanke und keine Zweifel. Ich hätte ihn auch auf dem Tisch liegen lassen können, was machte das schon? Alles ist aus.
    Auf dem Spaziergang war mir ein Restaurant aufgefallen, zu dem es ein paar Stufen hinunterging. Ich fand es wieder und sah mir die Speisekarte draußen an.
    Franklin aß nicht gerne auswärts. Ich schon. Ich ging weiter, diesmal in normalem Tempo, um mir die Zeit zu vertreiben, bis das Lokal öffnete. In einem Schaufenster sah ich einen Schal, der mir gefiel, und ich dachte, ich sollte hineingehen und ihn kaufen, es würde mir guttun. Aber als ich ihn in die Hand nahm, musste ich ihn fallen lassen. Er fühlte sich so seidig an, dass mir schlecht wurde.
    Im Restaurant trank ich Wein und wartete lange auf mein Essen. Es war kaum jemand da – sie waren noch dabei, alles für die Band aufzubauen, die am Abend spielen sollte. Ich ging in den Toilettenvorraum und war überrascht, wie sehr ich wie ich selbst aussah. Ich überlegte, ob ein Mann – ein älterer Mann – auf die Idee kommen könnte, mich abzuschleppen. Die Vorstellung war grotesk – nicht wegen seines etwaigen Alters, sondern weil für mich ein anderer Mann als Franklin völlig undenkbar war.
    Als mein Essen dann kam, brachte ich kaum etwas davon herunter. Es lag nicht am Essen. Nur an der seltsamen Situation, allein zu sitzen, allein zu essen, an der klaffenden Einsamkeit, der Unwirklichkeit.
    Ich hatte sogar daran gedacht, Schlaftabletten mitzunehmen, obwohl ich kaum je welche nahm. Ich hatte sie vor so langer Zeit gekauft, dass ich mich fragte, ob sie noch wirken würden. Aber sie wirkten – ich schlief ein und wurde kein einziges Mal wach, erst kurz vor sechs Uhr morgens.
    Mehrere große Lastwagen fuhren schon von den Parkplätzen neben dem Motel

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