Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
kleinen Kinder zu ihm kamen. Leiden bedeutete damals etwas anderes, aber das war es nicht, womit wir uns beschäftigten. Meine Mutter zeigte auf das kleine Mädchen, das sich halb hinter einer Hausecke versteckte, weil es zu Jesus wollte, aber zu schüchtern war. Das sei ich, sagte meine Mutter, und ich nahm an, dass sie recht hatte, obwohl ich nicht darauf gekommen wäre, wenn sie es mir nicht gesagt hätte, und obwohl es mir ganz und gar nicht lieb war.
Etwas, was mich wirklich zu Tränen rührte, war Alice im Wunderland, wenn sie riesig im Kaninchenloch gefangen liegt, aber ich lachte, weil meine Mutter das komisch zu finden schien.
Seit der Ankunft meines Bruders jedoch und dem endlosen Gerede darüber, dass er eine Art Geschenk für mich war, begann ich zu begreifen, wie weitgehend das Bild, das meine Mutter von mir hatte, von meinem eigenen abweichen konnte.
Ich vermute, all das machte mich bereit für Sadie, die dann kam, um bei uns zu arbeiten. Meine Mutter hatte sich in den Bereich im Haus zurückgezogen, in dem die Babys waren. Da sie nicht mehr ständig um mich war, konnte ich darüber nachdenken, was stimmte und was nicht. Ich war klug genug, darüber mit niemandem zu reden.
Das Ungewöhnlichste an Sadie – obwohl das in unserem Haus nicht als erwähnenswert galt – war, dass sie eine berühmte Persönlichkeit war. Unsere Stadt hatte einen Radiosender, für den sie Gitarre spielte und das Eröffnungslied sang, das sie selber komponiert hatte.
»Hallo, hallo, hallo, liebe Leute …«
Und eine halbe Stunde später hieß es: »Bis dann, bis dann, bis dann liebe Leute.« Dazwischen sang sie Lieder, die Hörer sich wünschten, und auch welche, die sie selber aussuchte. Die anspruchsvolleren Leute in der Stadt spotteten gern über ihre Lieder und über den ganzen Sender, der angeblich der kleinste in Kanada war. Diese Leute hörten einen Sender in Toronto, der beliebte aktuelle Lieder spielte – »Drei kleine Fischlein und auch Mammi Fisch« – und Jim Hunter, der die schlimmen Nachrichten vom Krieg herausschrie. Aber die Leute auf den Farmen mochten den lokalen Sender und die Lieder, die Sadie sang. Ihre Stimme war kräftig und traurig, und sie sang über Einsamkeit und Kummer.
Der Abendwind geht übers Land,
Ich schau in blaue Weiten,
Wo ist der Freund, den ich einst fand
In guten alten Zeiten …
Die meisten Farmen in unserem Teil des Landes waren vor etwa hundertfünfzig Jahren angelegt worden, und man konnte von fast jedem Farmhaus Ausschau halten und nur ein paar Felder weiter ein anderes Farmhaus sehen. Doch die Lieder, die die Farmer wollten, handelten alle von einsamen Cowboys, dem Reiz und der Härte abgelegener Orte, den bitteren Verbrechen, die dazu führten, dass die Verbrecher mit dem Namen ihrer Mutter oder dem Gottes auf den Lippen starben.
Davon sang Sadie tieftraurig mit kehliger Altstimme, aber bei uns zu Hause war sie voller Energie und Selbstvertrauen, redete gerne und hauptsächlich über sich selbst. Sehr oft hatte sie zum Reden nur mich. Ihre Arbeiten und die meiner Mutter trennten sie meistens voneinander, und ich glaube fast, sie hätten ohnehin nicht viel Freude daran gehabt, miteinander zu reden. Meine Mutter war eine ernsthafte Person, wie ich schon angedeutet habe, die in der Schule unterrichtet hatte, bevor sie mich unterrichtete. Sie hätte es vielleicht gerne gehabt, wenn Sadie jemand gewesen wäre, dem sie helfen und beibringen konnte, nicht »Tach-chen« zu sagen. Aber Sadie strahlte nicht aus, dass sie von irgendjemandem Hilfe brauchte oder irgend anders reden wollte als so, wie sie schon immer geredet hatte.
Nach dem Mittagessen war ich mit Sadie in der Küche allein. Meine Mutter nahm eine Auszeit für ihr Mittagsschläfchen, und wenn sie Glück hatte, schliefen die Babys auch. Wenn sie wieder aufstand, zog sie eine andere Art von Kleid an, als erwartete sie einen gemütlichen Nachmittag, dabei mussten bestimmt weitere Windeln gewechselt und auch dieses ungehörige Geschäft erledigt werden, das ich tunlichst nicht mit ansehen wollte, wenn nämlich das kleinste an einer Brust nuckelte.
Mein Vater leistete sich auch ein Mittagsschläfchen – vielleicht eine Viertelstunde auf der Veranda mit der
Saturday Evening Post
über dem Gesicht, bevor er wieder in die Scheune ging.
Sadie machte auf dem Herd Wasser heiß und wusch das Geschirr ab, wobei ich half und die Jalousien heruntergelassen waren, damit die Hitze draußen blieb. Wenn wir fertig waren,
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