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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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altes.
    »Sie will nämlich nach North Bay. Sie hat da Verwandte oder was, und da will sie hin, wenn sie ein Auto kriegen kann, das sie hinbringt.«
    »Sie hat hier Verwandte. Hier in der Gegend. Sie hat dreijährige Kinder, um die sie sich kümmern muss.«
    »Na, offenbar sind ihr die Verwandten in North Bay lieber. Von irgendwelchen Dreijährigen weiß ich nichts. Vielleicht nimmt sie die mit.«
    »Hat sie dich gebeten, ihr ein Auto zu kaufen?«
    »Sie würde nie um irgendetwas bitten.«
    »Also«, sagte ich. »Jetzt ist sie in unserem Leben.«
    »Sie ist in North Bay. Lass uns ins Haus gehen. Ich habe nicht mal eine Jacke an.«
    Auf dem Weg fragte ich, ob er ihr etwas von seinem Gedicht erzählt hatte. Oder es ihr vielleicht vorgelesen hatte.
    Er sagte: »Um Himmels willen nein, warum sollte ich das tun?«
    Als Erstes sah ich in der Küche das Blitzen von Gläsern. Ich zerrte einen Küchenstuhl heran, stieg hinauf und fing an, sie ganz oben auf das Regal zu stellen.
    »Kannst du mir helfen?«, fragte ich, und er reichte sie mir herauf.
    Ich überlegte – konnte er über das Gedicht gelogen haben? War es ihr vorgelesen worden? Oder war es ihr überlassen worden, damit sie es selbst las?
    Falls ja, dann war ihre Reaktion nicht zufriedenstellend gewesen. Aber wessen Reaktion konnte das je sein?
    Angenommen, sie hatte gesagt, es sei wunderschön? Er hätte das gehasst.
    Oder sie hatte sich vielleicht laut darüber gewundert, wieso er überhaupt damit durchgekommen war. Mit diesem Schweinkram, hatte sie vielleicht gesagt. Das wäre besser gewesen, aber so viel besser auch wieder nicht.
    Wer kann je zu einem Dichter über sein Gedicht die perfekten Worte sagen? Und nicht zu viele oder zu wenige, gerade genug.
    Er legte die Arme um mich und hob mich von dem Stuhl herunter.
    »Wir können uns Kräche nicht leisten«, sagte er.
    Wahrhaftig nicht. Ich hatte vergessen, wie alt wir waren, hatte einfach alles vergessen. Und gedacht, ich hätte alle Zeit der Welt, um zu leiden und zu klagen.
    Ich sah jetzt den Schlüssel, den ich in den Briefschlitz geworfen hatte. Er lag in dem Spalt zwischen der haarigen braunen Matte und der Türschwelle.
    Ich musste nach dem Brief Ausschau halten, den ich auch in einen Schlitz geworfen hatte.
    Angenommen, ich starb, bevor er ankam. Man kann sich verhältnismäßig gesund fühlen und plötzlich sterben, einfach so. Sollte ich Franklin eine Nachricht hinterlegen, nur für den Fall?
    Wenn ein an dich adressierter Brief von mir ankommt, zerreiß ihn.
    Der Haken war, er würde tun, was ich verlangte. Ich an seiner Stelle nicht. Ich würde den Brief aufmachen, ganz egal, was ich versprochen hatte.
    Er würde gehorchen.
    Seine Bereitwilligkeit, das zu tun, löste in mir eine Mischung aus Wut und Bewunderung aus. Ich besann mich auf unser ganzes gemeinsames Leben.

Finale
    Die letzten vier Stücke in diesem Buch sind keine üblichen Erzählungen. Sie bilden eine gesonderte Einheit, die vom Gefühl her autobiographisch ist, auch wenn manchmal nicht alles den Tatsachen entspricht. Ich glaube, sie sind die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe.

Das Auge
    A ls ich fünf Jahre alt war, zeigten meine Eltern ganz plötzlich ein Baby vor, einen kleinen Jungen, genau das, sagte meine Mutter, was ich mir immer gewünscht hatte. Wie sie auf diese Idee kam, war mir rätselhaft. Sie ließ sich lang und breit darüber aus, alles aus der Luft gegriffen, aber schwer zu widerlegen.
    Dann erschien ein Jahr später noch ein Baby, ein kleines Mädchen, und es gab wieder Getue, aber nicht so viel wie beim ersten.
    Bis zu der Ankunft vom ersten Baby war mir noch nie bewusst geworden, dass ich mich anders fühlte, als meine Mutter behauptete. Und bis zu der Zeit war das ganze Haus erfüllt von meiner Mutter, von ihren Schritten, ihrer Stimme, ihrem puderigen, dabei nicht ganz geheurem Geruch, der allen Räumen innewohnte, auch wenn sie gar nicht darin war.
    Warum sage ich »nicht ganz geheuer«? Angst hatte ich nicht. Es war auch nicht so, dass meine Mutter mir ausdrücklich vorgab, was ich jeweils zu empfinden hatte. Sie wusste eben derart genau darüber Bescheid, dass sie nichts in Frage zu stellen brauchte. Nicht nur, was den kleinen Bruder anbetraf, sondern auch die Haferflocken, die gut für mich waren, also stand fest, dass ich sie mochte. Und ebenso meine Ausdeutung des Bildes, das am Fußende meines Bettes hing, mit Jesus, der es litt, dass die

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