LIEBES LEBEN
glauben. Nein, ich habe nichts getrunken. Ich wäre vielleicht normaler, wenn ich es getan hätte. Ich war noch nie klarer bei Verstand.«
»Willst du heute nach der Arbeit bei der Polizei vorbeifahren und ein paar deiner Sachen holen?«
»Ehrlich gesagt gehe ich heute nicht zur Arbeit, und von Polizeistationen habe ich für heute genug. Ich fahre an den Strand: zu den Felsbrücken bei Santa Cruz. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht und dass du dir keine Gedanken um meine Sachen machen musst. Ich werde sie morgen holen.« Ich halte einen Moment inne, und dann fahre ich die großen Geschütze auf. »Ich weiß es sehr zu schätzen, Seth, dass du mir jederzeit hilfst. Aber heute werde ich ein Stück reifer.«
»Ashley?«
»Ich fliege nach Hawaii. Ich habe mir ein paar Reiseprospekte mitgenommen, als ich durch Palo Alto gelaufen bin - mit Pfennigabsätzen. Nicht zu empfehlen. Hawaii dagegen ...«
Er ist verwirrt. Ich weiß auch nicht, weshalb ich ihn immer noch überraschen kann. Ich bin neurotisch, und meine Stimmung wechselt im Handumdrehen. Warum ist das für ihn so schwer zu begreifen? Vielleicht mag ich Seth deshalb. Er ist von meinen ständig wechselnden Gemütszuständen fasziniert. Wenn man bedenkt, dass sonst kaum jemand - meine Familie eingeschlossen - meinen Gemütszustand wahrnimmt, ist das schon fast ein Kompliment. Es fasziniert mich, dass seine Stimmung nie umzuschlagen scheint.
»Ash, du steckst mitten in einem Gerichtsverfahren für Selectech. Hawaii?«
»Hawaii«, sage ich nachdrücklich. »Aber zuerst die Felsbrücken von Santa Cruz.«
»Was hast du vor?«
Ich stoße einen langen Seufzer aus. Ich bin keine Frau von Grundsätzen. Als Arin ankündigte, sie werde in den Urwald gehen, schüttelten alle nur den Kopf. Sie wussten, dass sie es ernst meinte. Von jetzt an werden die Menschen bei meiner Entschlossenheit zusammenzucken, wenn ich etwas sage.
»Ich fahre mit 75 Sachen an diesem wunderschönen, sonnigen Wintertag, und mein Auto hat seinen eigenen Willen. Es fährt einfach nicht zu Selectech. Es fährt zu den Felsbrücken.«
Seth ist sprachlos vor Staunen. Und das ist gut so. Letzte Woche gab es in meinem Leben so viele romantische Aussichten. Aber heute wird mir klar, dass eigentlich gar nichts zur Auswahl stand. Ich habe bei der Abschlussfeier unserer Schule die Rede gehalten. Man sollte meinen, ich brauche keine einunddreißig Jahre, um herauszufinden, was ich will - mit oder ohne Mann.
»Musst du nicht eine Wohnung suchen?«, fragt Seth, in einem weiteren Versuch, mich in den Strudel der Angst zurückzuziehen.
»Schon gefunden. Ich ziehe heute Abend bei Kay Harding ein.« Ha! Ich bin doch nicht so blöd. Ich bin auch ohne gute Referenzen und ohne Hab und Gut in der Lage, eine Bleibe zu finden.
Ich schaue auf den Rücksitz. Wer auch immer das Verdeck gestohlen hat, hat die Bibel liegen lassen. Aber vermutlich will jemand, der stiehlt, keine Bibel mitnehmen. Also habe ich alles im Auto, was ich zu einer kurzen Erholungspause brauche. Und genau das habe ich vor. Ich werde mein Singledasein genießen und mich freuen, dass Gott einen Grund dafür hat, wenn ich auch nicht weiß, welchen. Ich werde meinen weiteren Lebensweg planen. Von nun an ist Ashley Wilkes Stockingdale eine andere Frau.
»Ich muss auflegen. Ich muss Purvi anrufen.«
»Ash ...«
»Tschüss!« Ich tue so, als hätte ich das nicht mehr gehört, und lege auf. Ich analysiere das Gespräch nicht. Ich mache einfach weiter. Nächster Punkt.
»Purvi«, sage ich dem Telefon und höre wie es wählt.
Sie geht brüllend ans Telefon, was ihr gar nicht ähnlich sieht.
»Ashley, wo steckst du? Die Marketing- und die Technikabteilung brauchen die Entwürfe, die du durchgesehen hast, und du musst diese Verträge noch einmal durchgehen. Bei einem internationalen Patent ist Abgabetermin, und bei einem anderen Patent ist Abgabetermin für eine Verlängerung. Wo bist du?«
»Ich sitze in meinem Auto und bin auf dem Weg zum Strand. Ich habe jetzt sechzehn Tage am Stück gearbeitet und brauche eine Pause, sonst drehe ich durch.«
Purvis Stimme verändert sich. Sie zeigt Mitleid, aber sie weiß immer noch, was sie will. »Ashley, willst du deinen Job verlieren? Ich kann dich nur für eine bestimmte Zeit decken, aber diese Patente müssen ...«
»Ich war zwei Wochenenden in Taiwan und habe noch acht Wochen Urlaub stehen - ganz zu schweigen von meinen Überstunden. Ich werde meinen Job nicht verlieren, es sei denn, Selectech
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