LIEBES LEBEN
schleudere meine Prada-Tasche in den Kofferraum, gehe zum Strand und beobachte einen riesigen grauen Pelikan, der im Sturzflug ins Wasser stößt und einen Fisch herausholt. Der Vogel, der aussieht wie aus der Steinzeit, segelt anmutig über den Wellenkämmen, als wolle er seine Beute den anderen Fischen zeigen, die glücklicherweise noch übrig sind. Als wolle er dem Schwarm sagen, jeder kann der Nächste sein.
Ich setze mich in den trockenen Sand und starre auf den weiten Horizont. Lange Zeit denke ich über alles Mögliche nach, was ich morgen anziehen werde oder was für ein Badeanzug am besten zu Gottes Plan für mein Leben passen würde. Ich nehme mein Notizbuch heraus und beschließe, das Leben so anzugehen, wie ich ein neues Patent angehen würde. Ich höre in mich hinein und mache mir Notizen, damit ich nichts vergesse.
Die neue Ashley Stockingdale wird
auf der Hochzeit ihres Bruders tanzen und sein neues Leben akzeptieren.
Urlaub machen und lernen, sich zu entspannen - bis zum Umfallen.
sich jeden Tag zehn Minuten über ihre Umgebung freuen.
Risiken eingehen. Vielleicht sogar eines Tages Lilly-Pulitzer-Kleider zur Arbeit anziehen.
nie wieder, und ich meine wirklich niemals, Matrix anschauen.
sich nicht über die Single-Gruppe lustig machen. Sie ist selbst einer.
Als ich aufschaue, bin ich gefesselt vom Anblick des strahlend blauen Himmels vor dem Hintergrund des Pazifiks. Ein Kastendrache in leuchtenden Neonfarben fliegt am Himmel, und ich wünschte, ich könnte mit dieser Leichtigkeit fliegen. Außerdem wird mir bewusst, dass ich Hunger habe. Ich bin seit drei Stunden hier und habe überhaupt nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht. Ich stehe auf, gehe barfuß ans Wasser und strecke meinen großen Zeh ins eisige Wasser.
»Ashley!«
Beim Klang meines Namens lache ich, aber er kommt noch einmal.
»Ashley!«
Ich drehe mich um und sehe, dass Seth auf mich zu kommt. Er hat einen Blumenstrauß in der Hand, und es sind Tulpen, meine Lieblingsblumen. Rosa Tulpen. Ich blinzle und schüttle den Kopf. Vielleicht habe ich doch Alkohol getrunken und weiß es nur nicht mehr.
Ich warte, bis er bei mir ist, um zu sehen, ob ich vielleicht zu lange in der Sonne war. Es ist wie eine Fata Morgana, aber es ist Seth. Wahrscheinlich ist er gekommen, um mich zu fragen, ob Arin oder Kay diese Tulpen gefallen würden, oder weil er ein schlechtes Gewissen hat wegen meiner Sachen.
»Hallo Seth. Hast du gedacht, ich sei durchgeknallt?« Einen anderen Grund, weshalb er hier sein sollte, kann ich mir nicht vorstellen.
Er streckt mir den Strauß nicht entgegen; er steht einfach nur da. Wieder einmal wartet er, dass etwas passiert, wie das Ingenieure so an sich haben.
»Nun?« Ich klopfe mit meinem nackten Fuß auf den Sand.
Er sagt kein Wort, lässt die Blumen zu meinen Füßen fallen und schaut mich nur an. Seine kristallblauen Augen vor dem Hintergrund des Ozeans erinnern mich schmerzhaft daran, dass ich noch nicht alles, was mich quält, überwunden habe. Seth Greenwood wühlt immer noch alles in mir auf, wie die Flut den Meeresboden.
Seths Hände greifen nach mir, und ich zucke zusammen und weiche zurück. Er kommt auf mich zu, und ich schüttle den Kopf. Von diesem Augenblick hängt zu viel ab für mich. Ich stehe da mit allen Erwartungen der Welt in mir und habe gleichzeitig nicht ein Körnchen Vertrauen, dass irgendetwas davon in Erfüllung gehen wird.
»Sag was«, befehle ich ihm.
Aber er sagt nichts. Er beißt sich nur auf die Unterlippe. Ich ermahne mich selbst, daran zu denken, dass kein Mensch mir Erfüllung geben kann - ich versuche angestrengt, mich an alles zu erinnern, was ich heute beschlossen habe - jeden Tag und jeden Moment für sich zu nehmen und mich daran zu freuen. Vor lauter Nervosität fange ich an, ein Kirchenlied zu singen. Ich fange ganz leise an, werde aber im Einklang mit den Wellen immer lauter.
»Seliges Wissen, Jesus ist mein! Köstlichen Frieden bringt es mir ein. Leben von oben, ewiges Heil ...«
»Ich habe es schon einmal versucht«, erklärt er. Aha, er kann also doch sprechen.
Ich höre auf zu singen. »Was hast du versucht?«
»Du bist immer so in Eile und musst irgendwo hin. Ich habe nie das Gefühl, dass jetzt der richtige Augenblick ist.«
»Ich bin immer in Eile. Deshalb bin ich auch heute hier am Strand. Ich will nicht mehr so hetzen. Eines Tages bin ich fünfzig und probiere immer noch Miniröcke an, weil alles so schnell gegangen ist, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher