LIEBES LEBEN
kannst mir auch gleich ein Messer ins Herz rammen.
»Einverstanden.« Er beugt sich zu mir herüber, schaut auf den Stapel von Akten, die ich auf die armselige, wackelige Ablage vor mir lege. »Woran arbeitest du da?«
Einverstanden. Er hat es gesagt, und plötzlich sehe ich ihn im Smoking und mich in cremefarbenen Hochzeitsschuhen den Mittelgang entlang auf ihn zugehen. Die Menschen bewundern mein Hochzeitskleid, das hinter mir in einer Schleppe dahinwallt ...
»Ashley?«
»Äh, ja?«
»Ich habe dich gefragt, woran du da arbeitest.«
»Ach ja. Ich muss mich auf meinen Fall vorbereiten. Ich gehe die Zahlen durch und überlege mir, was ich in Taiwan alles erledigen muss. Am Donnerstag werde ich an unsere Verabredung denken und an nichts anderes.« Ich bin eine schreckliche Rechtsanwältin. Ich verrate alles.
»In Ordnung. Ich sehe schon, ich lenke dich von deiner Arbeit ab. Ich werde dich in Ruhe lassen, damit du richtig arbeiten kannst. Aber am Donnerstag gehörst du ganz mir.« Kevin zwinkert mir zu, steht auf und geht nach vorne, bevor ich noch ein Wort sagen kann. Einen Moment später mache ich mir bewusst, dass ich meinen Mund schließen sollte. Das ist das letzte Mal, dass ich ihn auf diesem Flug sehe. Irgendeine süße Stewardess hat ihm wahrscheinlich einen Platz in der ersten Klasse gegeben, nur damit sie ihn immer sehen kann. Ich zwinge mich dazu, in meine Unterlagen zu starren und mich auf meine unmittelbar bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren statt auf meine fantastische Verabredung am Donnerstag. Ganz zu schweigen von dem, wozu sie führen könnte. Er war derjenige, der angedeutet hat, dass es mehr geben könnte, bummeln in Sausalito und so. Die Unterlagen. Konzentrier dich, Ashley, konzentrier dich.
In Taiwan angekommen, werde ich sofort vom Dieselgestank und der grauen, feuchten Hitze der Subtropen erschlagen. Diese Luft raubt mir einfach jeden Lebensgeist, und ich frage mich, wie hoch wohl die durchschnittliche Lebenserwartung hier ist. Die Sonne geht unter, und mein Magen knurrt, aber bei der Auswahl der Speisen hier bin ich ängstlich. Irgendwie habe ich Kevin nicht wiedergesehen. Hat er kein Gepäck eingecheckt? War alles nur Einbildung gewesen? In einer Boeing 747 sind eine Menge Passagiere, aber ich dachte, dass ich ihm zumindest noch einmal zuwinken kann, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ich habe eine halbe Stunde auf einer Sardinenbüchse von Toilette verbracht, um mich dafür vorzubereiten, aber ich habe kein Glück.
Ein Auto kommt und bringt mich in mein Hotel. Wir fahren an einem wunderschönen Hyatt Hotel vorbei, das ein bisschen aussieht wie aus Las Vegas, aber wir fahren weiter. Ich bin in einem amerikanischen Hotel, aber es ist ein Betongebäude in einem leuchtenden Pfirsichgelb gestrichen. Der Fahrer hilft mir, mein Gepäck ins Hotel zu tragen, und verbeugt sich leicht, als er fertig ist. Ich erwidere die Verbeugung und gehe zur Rezeption.
»Guten Abend. Ashley Stockingdale. Ich habe ein Zimmer reserviert.« Hinter dem Tresen steht ein junger Mann. Er trägt einen dunklen Anzug des Hotels und ist perfekt gekleidet. Bei seinen Manieren wünschte ich mir, ich könnte ihn mitnehmen nach Palo Alto. »Miss Stockingdale, schön, dass Sie hier bei uns sind. Ich lasse Ihr Gepäck aufs Zimmer bringen, und wenn es Ihnen beliebt, können Sie in unser hauseigenes Restaurant gehen.«
Es beliebt mir. Es ist fünf Uhr nachmittags, und obgleich der Gedanke an das Essen hier Angstzustände in mir auslöst, muss ich jetzt stark sein. Das ist meine Gelegenheit. Purvi vertraut mir, dass ich das alleine kann, und ich will sie stolz machen. Ich werde nicht Hungers sterben, bevor ich meine Sache vorgebracht habe.
Apropos Sache vorbringen. Ich hatte noch gar keine Zeit, Angst davor zu bekommen, es diesmal alleine tun zu müssen. Normalerweise bin ich nur zur Dekoration dabei. Ich weiß, dass ich einen Blazer mit Rock tragen muss. Ich weiß, dass ich meine Visitenkarte mit beiden Händen überreichen und die meines Gegenübers genau ansehen muss, wenn sie sie mir geben, aber ich habe panische Angst, weil niemand da ist, der mir wieder auf die Sprünge hilft, wenn ich in der Verhandlung stecken bleibe. Purvi spricht genug Chinesisch, um bei den Menschen hier geachtet zu werden, aber bei mir ist sogar die Begrüßung schon etwas rostig geworden. Meine Gedanken drehen sich immer noch im Kreis, als der Ober mich begrüßt und mir die ledergebundene Speisekarte reicht.
»Guten Abend, Miss
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