LIEBES LEBEN
Stockingdale. Möchten Sie vielleicht mit einem Cocktail beginnen?« Jeder hier spricht perfekt Englisch, ganz im Gegensatz zu meinem Chinesisch.
»Nein. Nein danke. Ich hätte gerne eine Cola Light.«
Der Ober, ganz typisch in schwarz-weiß gekleidet, eilt davon, um mir mein Getränk und ein bisschen amerikanisches Flair zu bringen. Ich sehe mich im Restaurant um, in dem alle Gäste allein an den Tischen sitzen. Eine Fensterfront bildet einen Halbkreis, und von der hohen Decke hängen schwere Vorhänge. Nichts hier erinnert einen daran, dass man in Taipeh ist - außer die Dim-Sum-Knödel und die gebratene Ente auf der Speisekarte - und selbst das könnte genauso gut im Silicon Valley sein. Ein Marmorspringbrunnen sorgt für eine gleichmäßige Geräuschkulisse, so dass wir Geschäftsreisenden nicht merken, dass wir uns mit niemandem unterhalten.
Der Ober kommt mit meinem Getränk zurück. »Haben Sie schon gewählt? Haben Sie schon unsere Auswahl an frischen Meeresfrüchten und Fischen gesehen?« Er deutet auf ein großes Wasserbecken.
Ich gebe ihm schnell die Speisekarte zurück. »Ich nehme einen Hamburger.«
Falls er meine Wahl verachtet, zeigt er es nicht. »Natürlich, sofort, Miss Stockingdale.«
»Sie sollten den Fisch versuchen.« Ein amerikanischer Geschäftsmann im Anzug, dessen Jackett über dem zweiten leeren Stuhl an seinem Tisch hängt, spricht mich an. Er isst einen Hamburger.
»Das sollten Sie auch tun. Fisch ist gesund, wissen Sie.«
»Woher kommen Sie?«
»Palo Alto«, antworte ich. Jeder, der geschäftlich in Taipeh ist, kennt Palo Alto, die Wiege von Hewlett-Packard. »Und Sie?«
»San Mateo«, sagt er, eine nahegelegene Stadt auf der Halbinsel von San Francisco.
»Sie klingen müde. Müssen Sie oft hierherkommen?«
Er nickt. »Ein Mal im Monat.« Er kommt zu mir an den Tisch und öffnet seine Brieftasche. »Das hier sind meine Frau und die Kinder.«
»Sie haben Kinder und müssen trotzdem ins Ausland? Ich dachte immer, sie schicken nur uns Singles ans Ende der Welt.«
Er fasst sich ins Haar.«Sehen Sie, wie grau die sind? Das kommt davon, weil ich schon mein ganzes Leben lang unterwegs bin. Ich gehöre ihnen, und jetzt, wo ich ein Haus abzubezahlen habe, kann ich nichts mehr daran ändern. Ich erzähle Ihnen das alles, weil Sie aussehen, als seien Sie noch neu im Geschäft. Habe ich recht?«
Ich nicke. »Das ist das erste Mal, dass sie mich allein weggeschickt haben.«
»Lassen Sie das nicht mit sich machen, Miss. Die kaufen Sie mit Leib und Seele, wenn Sie es zulassen.« Seine Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken, und plötzlich macht mir seine Gegenwart Angst. »Genießen Sie Ihren Hamburger.« Er wirft ein paar Geldscheine auf seinen Tisch und marschiert zum Aufzug. Ich habe das Gefühl, als sei ich gerade ausspioniert worden.
»Ober!« Dabei hebe ich den Finger. Ich glaube, das ist hier unhöflich, aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. »Würden Sie mir den Burger einpacken? Ich muss heute früh ins Bett.« Als ich mit dem Fahrstuhl oben angekommen bin, ist der Hamburger kalt und weich. Er schmeckt zwar nicht wie bei In-N-Out, aber er ist ganz anständig. Mein Zimmer ist typisch, klein, viele Telefonleitungen, aber mit einem Blick auf mein Notebook beschließe ich, dass mich Purvis Last-Minute-Anweisungen nicht interessieren. Die E-Mails können noch warten.
Ich starre aus dem Fenster, hinunter auf das geschäftige Treiben auf den Straßen Taipehs, und frage mich, ob ich das in zehn Jahren auch noch tun will. Oder auch nur in fünf.
Ich will gerade Seths Nummer wählen. Aber zu Hause ist es jetzt drei Uhr morgens. Ich weiß zwar, dass ihn das nicht stören würde, aber ich habe zu viel Angst und tue es nicht. Ein Anruf mitten in der Nacht ist etwas so Vertrautes, und so weit ist unsere Beziehung einfach nicht.
Irgendwann schlafe ich ein und wache um halb sechs morgens wieder auf. Bei meiner morgendlichen Gebetszeit stelle ich meine Karriere infrage - für die ich immerhin um die halbe Welt gereist bin. Wozu soll ich ein Patent schreiben, wenn ich es nicht selbst verteidigen kann? Wahrscheinlich ist alles nur Heimweh. Das ist vollkommen normal , rede ich mir selbst ein.
Nächsten Sonntag bin ich wieder in meiner Gemeinde, bin wieder bei den ewigen Singles und weiß, dass ich eine von ihnen bin und nicht über ihnen stehe. Bei mir gibt es keine bestimmte Schwäche, weshalb ich Single bin, wie bei den anderen. Ich bin eher eine Ansammlung von
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