LIEBES LEBEN
Schwächen. Ich arbeite sechzig Stunden pro Woche und habe keinerlei gesellschaftliches Leben mehr. Aber das scheint niemandem aufzufallen.
Um sieben Uhr verlasse ich das Hotel, um zu meinem Treffen um halb neun zu gehen. Bei dem Verkehr hier in Taipeh sollte man lieber nicht zu spät losgehen. Die Motorroller stapeln sich schon auf der Straße, und obwohl die Stadt noch gar nicht zu vollem Leben erwacht ist, bleibt mein Fahrer stecken und muss warten, bis die Fußgänger und Fahrradfahrer über die Straße sind.
Erleichtert erreichen wir meinen Bestimmungsort, und zu meinem Erstaunen bin ich noch heil. Ich verneige mich zum Fahrer und schnappe meine Aktentasche mit dem schnulzigen Roman. Wenigstens weiß ich, wie ich mir die dreiviertel Stunde bis zur Besprechung vertreiben kann. Die Eingangshalle ist noch verschlossen, und so setze ich mich in ein kleines Teehaus und bestelle einen Perlentee. Im Silicon Valley ist das eine bekannte Spezialität aus süßem schwarzem Tee mit Milch und großen Stärke-Perlen aus Tapioka. Die Inhaber freuen sich sehr, eine Amerikanerin zu Gast zu haben, und ich fühle mich wie Elaine in ihrem Nagelstudio in der Seinfeld-Sitcom, während sie über meine Anwesenheit kichern und tuscheln.
Ich gehe durch meine Unterlagen, die einen beängstigenden Rechtsfall enthalten, in dem einem Hersteller vorgeworfen wird, er habe zur Herstellung seines Billigproduktes das geistige Eigentum meiner Firma kopiert, veruntreut und verletzt.
Ich übe einige Male, diesen Satz in einem drohenden Tonfall zu sagen, bevor ich zurück zum Bürogebäude gehe. Ich soll jemand von unserem Selectech Büro vor Ort zu der Besprechung treffen, und ich merke, wie ich inständig dafür bete, dass der- oder diejenige erscheint.
Die Dame am Empfang, die wie eine amerikanische Managerin gekleidet ist, notiert meinen Namen und drückt einige Tasten auf ihrem Telefon. Inzwischen kommt jemand in die Eingangshalle. Er ist groß und sieht aus, als wüsste er genau, was er will. Oh bitte, bitte, sei von Selectech.
»Patentanwältin Ashley Stockingdale?« Er verneigt sich.
Für die Chinesen sind Titel sehr wichtig. Wenn man einen hat, gebrauchen sie ihn auch. Vielleicht ist es das, was mir in Palo Alto fehlt. Vielleicht etwas mit meiner erstklassigen Adresse: Ashley Stockingdale, Channing Street. Oder vielleicht etwas mit meinem Auto: Ashley Stockingdale, Audi TT Cabrio. »Ja, ich bin Anwältin Stockingdale.« Ich verneige mich und strecke ihm die Hand hin.
»Beiratsvorsitzender, Chen Shing-Sen.« Er nimmt meine Hand.
»Sehr erfreut, Herr Vorsitzender.«
Wir werden sofort in einen dunklen, hoch technologisierten Raum geführt, durch dessen Fenster man nicht hinaussehen kann, und dort reihum einander vorgestellt. Das Visitenkarten-Durcheinander dauert zwanzig Minuten. Nach einigen Einführungen sitzen alle nur stumm da und starren vor sich hin. Wer macht den Anfang?
»Nun ja, ...«, stottere ich. »Ihr Unternehmen hat mit seiner gegenwärtigen Speicherkarte gegen das U.S. Patent Nr. 66543217 verstoßen, und wir bitten Sie eindringlich, die Produktion umgehend einzustellen, da sonst unsererseits weitere Maßnahmen ergriffen werden.« Uuuuh, das macht sogar mir selbst Angst.
Sie schauen sich alle gegenseitig an und unterhalten sich auf Chinesisch, bis ein Sprecher ablehnt.
»Nun, dann werden alle Ihre Lieferungen im Einklang mit dem U.S. Patentrecht von den amerikanischen Zollbehörden gestoppt. Vielen Dank für Ihre Zeit.« Ich stehe auf, um zu gehen. Ich bin wie einer der Anwälte aus der Gerichtsserie »The Practice«. Ich bin echt gut drauf.
»Einen Moment«, sagt der Sprecher. »Vielleicht können wir uns einigen. Gibt es einen Preis, um dieses Patent benutzen zu dürfen?«
»350.000 Dollar für die Nutzung des Patents sowie eine Nutzungsgebühr von zehn Prozent des Gewinns.«
Sie fangen an zu murren. Ich weiß, dass Produkte im Wert von Millionen in amerikanischen Häfen liegen, und ohne mein Einverständnis werden sie dort verrotten. Ist das nicht zum Brüllen? Ich, die ich nicht einmal eine Verabredung mit einem Mann zustande bekomme! Und jetzt liegt das Schicksal dieses Unternehmens in meinen Händen.
»Haben Sie die Verträge dabei?«
»Ja.« Ich reiche ihnen die Übereinkünfte.
»Wir werden Sie in Ihrem Hotel benachrichtigen. Wo sind Sie untergebracht?«
»Steht alles da drin«, sage ich und stehe auf. »Meine Herren, es war mir eine Ehre, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«
Kein Gelächter, und sie
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