LIEBES LEBEN
kennen, untergehen.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagt Kevin, und seine grünen Augen leuchten nicht mehr. »Lass es uns trotzdem tun. Lass uns unserer Verantwortung nachgehen und hinterher Spaß haben. Am Mittwoch komme ich aus Taiwan zurück. Und du?« Seine Stimme wird lauter vor Aufregung, und plötzlich verliere ich mich ganz im Augenblick und vergesse, dass ein schrecklicher Langstreckenflug mit Sicherheitsproblemen vor mir liegt.
»Am Donnerstagmorgen um halb neun«, erkläre ich.
»Donnerstag. Treffen wir uns um zwölf in der Top of the Mark Bar auf einen Drink und essen dort zu Mittag. Das wird dir helfen, den Jetlag besser zu überwinden. Dann fahren wir mit der Straßenbahn zum Kai, steigen auf die Fähre, gehen in Sausalito bummeln, und das Mountainbikefahren heben wir uns für ein anderes Mal auf.«
Ich muss an meine Wohnung denken, beziehungsweise an deren nicht mehr Vorhandensein, und an die Brautparty und all die Punkte auf meiner To-Do-Liste. Aber ich werfe alle Vorsicht über Bord. Mist, ich habe den lila BH weggeschmissen. Das war eine meiner Errungenschaften. Und jetzt lädt mich ein blendend aussehender junger Arzt ein, aus meinem Gefängnis auszubrechen.
Deutlicher kann man es nicht mehr gezeigt kriegen. Wenn ich jemals eine Gelegenheit haben werde, dann jetzt.
Bitte lass mich einfach diesen Augenblick genießen, Gott. Es muss ja nichts bedeuten. Ich will mich nur selbst aus diesem Sumpf befreien. Ich kneife die Augen fest zu, wohl wissend, dass ich gerade mit meinen eigenen Gefühlen spiele. Kevin gehört nicht zu der Sorte Mann, die man ganz ungezwungen kennen lernen kann. Er ist wie Colin Firth, Hugh Jackman und Vin Diesel zusammen mit einem Dr. med. davor.
»Okay, tun wir’s«, antworte ich.
Gerade wurde angekündigt, dass wir wieder an Bord gehen können. Kevin geht neben mir und trägt meine Tasche. Als er mich anlächelt, spüre ich wieder Energie in mir. Sechzehn Stunden Flug erscheinen mir plötzlich nur noch wie ein Augenblick in der Geschichte. Endlich geht es mit meinem Leben bergauf.
12
Als ich mich im Sitz anschnalle, ohne dabei auf die monotone Anleitung des Flugbegleiters zu achten, klopft mein Herz immer noch wie wild. Gibt es wirklich jemanden, der nicht weiß, wie ein Sicherheitsgurt funktioniert? Diejenigen können sich bestimmt das Flugticket gar nicht erst leisten.
Kevin sitzt jetzt neben mir. Mein Nebensitzer von vorhin hat mit ihm den Platz getauscht. Na bitte, die Taiwanesen begreifen das. Ein amerikanischer Ingenieur hätte gar nicht bemerkt, dass ich einen Freund habe. Meine Sorge um den Start hat deutlich nachgelassen, weil ich jetzt weiß, wenn ich sterbe, werde ich wenigstens stilvoll neben einem blendend aussehenden Arzt sterben, der sich vielleicht für einen Augenblick mit mir verbunden gefühlt hat. Das ist doch keine schlechte Art zu sterben, oder? Außerdem ist er Christ. Wir könnten gemeinsam entschweben. Das ist doch mal romantisch, wie die christliche Version von Christopher Reeve und Jane Seymour in »Somewhere in Time«. Ich lächle Kevin an und frage mich, ob er wohl meine Gedanken lesen kann. Ich bin nicht gerade ein geheimnisvoller Typ. Ich bin so leicht zu durchschauen wie Klarsichtfolie.
Als das Flugzeug abhebt, greife ich nach Kevins Hand. Diesen Teil des Fluges habe ich noch nie gemocht. Kevins Hand ist glatt und maskulin, mit langen Fingern. Es sind die Hände eines Chirurgen, schön und gleichzeitig unglaublich geschickt. Während ich auf seine Hände schaue, verpasse ich den letzten Ausblick auf San Francisco und die Golden Gate Bridge.
»Du warst heute nicht im Gottsdienst«, meint Kevin, als wir unsere Flughöhe erreicht haben.
Hey, wir sind noch nicht tot , stelle ich plötzlich fest. Das Flugzeug ist nicht beim Start explodiert. Das ist gut. Das ist sehr gut.
»Nein, ich wollte den Flug nicht verpassen. Wenn ich gewusst hätte, dass wir verspätet starten, hätte ich in beide Gottesdienste gehen können«, antworte ich lachend, aber er lächelt nicht.
Kevin ist ein wenig nüchtern, stelle ich fest. Wenn ich noch in der Highschool wäre, hätte ich vielleicht sogar gesagt, er ... ach egal. Jetzt würde ich das nicht mehr sagen. Ich hätte vielleicht zugegeben, dass er Kohlitis hat - nicht die Darmentzündung Kolitis, sondern Kohlitis wie in Kohli Cahners, dem beliebtesten Mädchen an unserer Schule.
Brea und ich haben damals die bahnbrechende Theorie aufgestellt, dass Menschen, die ihr ganzes Leben lang blendend aussehen,
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