Liebesbisse
sie ansehen kann. Doch ich betrete das Zimmer nicht. Ich bin lieber im Kinderbett, in dem meine Tochter liegen würde, wenn sie fünfzehn wäre. Ich nehme Medikamente und schlafe dort ein.
Abends lädt er zu Dinnerpartys ein, und ich muss mich zusammennehmen, um zu plaudern, mich aufrecht zu halten, zu lächeln oder einfach nur teilzunehmen, gefällig zu sein und nicht zu weinen. Ich würde es nicht mal merken, wenn man mir einen Streich spielen und die Tapete wechseln würde, sagt mein Mann. Gib dir mehr Mühe, spiel mit, hör zu, zeig Interesse!, fügt er hinzu, mein immer distanzierter, nie liebevoller Berater. Irgendwann wirst du dich wieder wohlfühlen, brich die Brücken nicht ab. Die Menschen sind eben, wie sie sind, aber du brauchst sie, um weiterzuleben.
Wenn ich ein Wort falsch ausspreche, wenn ich »kalt« sage statt »Kalb«, »liegen« statt »fliegen«, »Mann« statt »kann« oder »Schänder« statt »Bänder«, zuckt mein Meister zusammen. Doch wenn er feststellt, dass ich mich korrigiere und ruhig weiterspreche, fasst er sich wieder, dann atmet er auf und denkt, wir sind noch mal davongekommen. Dieses eine Mal. Meine neue Behandlung schlägt an. Beruhigungsmittel ohne Ende, ansonsten könnte sich mein Zustand verschlechtern. Kapseln, Tropfen, Pillen – er kennt die jeweilige Dosis und vergewissert sich ständig, ob ich sie auch eingenommen habe. Hast du alles genommen?
Ich werde sie ausspucken. Mein Tischnachbar redet über Wintersport und fragt mich, ob ich gern Ski fahre, ob ich Schnee mag und die Weihnachtsfeiertage. Dezember?, sage ich, da ist unsere Tochter gestorben, genau im Dezember, genauer gesagt, in den Bergen. Sie wussten es, nicht wahr? Warum sagen Sie es dann nicht?
Diese Fragen stelle ich leise, ich will nicht, dass mein Mann mich hört – ich würde die Essensgäste nur in Verlegenheit bringen. Später, wenn sie wieder daheim sind, werden sie sagen, dass die Gastgeberin schrecklich niedergeschlagen war. Wenn Sie es wissen, sage ich noch leiser, könnten Sie zumindest sagen, wie leid es Ihnen tut, das gehört sich so.
Die Frauen trinken Champagner und lauschen höflich meinem Mann, der erzählt, abschweift, scherzt. Sie würden gern wiederkommen, ein andermal vielleicht, oder sich mit mir anfreunden, aber ich will sie nicht wiedersehen. Ich grabe lieber Löcher im pechschwarzen Garten und warte, dass mir zwischen den Beinen ein Schwanz wächst, um zu wissen, wie das ist, ein Mann zu sein, der nicht weint.
Wir schlagen uns recht und schlecht durch; unser Kummer ist nicht derselbe. Manchmal frage ich mich sogar, ob wir dieselbe Tochter haben. Nichts zu machen, mein Körper ist kalt, und mein Mann ist mit dem Kopf woanders. Er kann mir nicht helfen, wir haben uns in dem schwarzen Strudel verloren. In den ersten Stunden hielten wir uns stumm an der Bettkante die Hand, ohne Theater, wir haben nur gewartet. Am Tag der Beerdigung ließ er meine Hand los. Ich hatte ein Leben geschenkt und den Tod zurückbekommen. Das dachte er. Er hat die Zähne zusammengebissen, nie hat er geweint.
Er sagt, es sei nun schon lange her. Ich müsse mich daran gewöhnen. Das befiehlt er mir, wenn die Gäste kommen und mein Kopf sich verabschiedet. Dennoch halte ich mich aufrecht. Er hat es für mich so entschieden. Ich spiele die große Dame. Er sagt: Übertreib nicht, geh es langsam an, beruhige dich. Das sagt er ganz leise, manchmal flüstert er es mir ins Ohr. Denken die Leuten dann, er sage: Ich liebe dich oder sonst eine Zärtlichkeit? Ich bitte ihn als Gegenleistung für meine gute Haltung um ein Stück »Rot«. Er reagiert nicht.
Dieser Abend scheint Ihnen so lästig zu sein wie mir!, sagte ich zu den Damen, die mir gelangweilt zuhörten und denen jedes Wort meines Mannes lieber war als alles, was ich erzählt habe. Nicht gelangweilt, sagt er dann im Schlafzimmer, wenn ich mich über diese Frauen und ihre hässlichen, angespannten Mienen ohne jede Wärme, ohne jedes Mitgefühl für mich beschwere. Nicht gelangweilt, wiederholt er mit rot geäderten Augen – schockiert sind sie von dem Blödsinn, den sie sich von dir anhören müssen!
Ich lüge nicht, ich sage die Wahrheit, ich erzähle unseren Gästen, was ich will. Ich finde, sie reden zu laut, meine tote Tochter könnte in ihrem Zimmer gleich nebenan schlafen. Und nur dass sie tot ist, heißt noch lange nicht, dass sie nicht da ist. Hören Sie doch, sie atmet! Ihr leiser, warmer Atem steigt von Ihren Tellern auf, Sie werden
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