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Liebesbrand

Liebesbrand

Titel: Liebesbrand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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gelaufen, sie wollten nicht an ihre erzwungene Vasallentreue erinnert werden, sie
     wollten Täter und Opfer vergessen. Einfach vergessen – was war falsch daran, sich nicht länger mit der falschen bleiernen
     Zeit zu beschäftigen? Die alten Männer in kurzen Hosen machten ernste Gesichter, manch einer hielt die Arme eng an den Seiten
     und sah aus wie ein salutierender Soldat, die Denkmäler brachten uns Bürger nur dazu, in unseren Bewegungen zu erstarren,
     unsere Gespräche abzubrechen und ein Gefühl von Heiligkeit des Augenblicks zu bekommen, die erlogen und erschwindelt war.
     Jetzt standen sie alle stramm, ich fühlte Haß in mir aufsteigen, Haß auf die zu Tränen gerührten Idioten, Haß auf ihre nackten
     Wachtelbeine, Haß auf ihre Ehefrauen, die beim Anblick der Skulpturen aus Metall und Fleisch aufseufzten. Ein leichter Wind
     konnte die Heiligkeit zerwehen, ein starker Wind konnte jedes Banner zerfetzen, ein kleines Beben und jede Gedenkhalle fiele
     in sich zusammen. Haß und Kopfschmerzen, ich konnte nicht mehr bleiben, und ich hatte es satt, immer wieder auf Parkbänken
     zu sitzen, zu Treffen auf Parkbänken beordert zu werden, auf Parkbänken über mein Leben und meine Liebe zu sprechen, weg hier,
     bloß weg.
     
    Die Pendler standen und starrten, sie hielten ihre Aktenkoffer und Taschen fest umklammert und starrten |272| hinauf auf die Anzeigetafel, auf der die Abfahrtszeiten für die Nahverkehrszüge in kleinen gelben Feldern aufleuchteten, und
     erst als die baldige Ankunft eines Zuges angesagt wurde, setzten sie sich in Bewegung und verteilten sich auf dem Bahnsteig.
     Ich eilte aus dem Masaryk-Bahnhof hinaus, achtete nicht auf den Zebrastreifen, sondern überquerte die Straße im Zickzack,
     ich hatte es den Tschechen abgeschaut, die von Ausschreitungen nichts hielten, aber sich für gerade noch tolerierbare Aufsässigkeiten
     empfänglich zeigten.
    Am Kiosk stellte ich mich vor den Magazinständer und blickte auf Gesichter von Frauen, mir fiel auf, daß sie sich fast ausnahmslos
     im Profil hatten fotografieren lassen, vielleicht war das eine Geste, die aus der Zeit der roten Windstille stammte. Ich fühlte
     mich schlecht, ich fühlte mich krank, ich fühlte mich wie ein Idiot auf Wanderschaft. Ich lehnte mich gegen die Litfaßsäule,
     auf dem Bahnhofsvorplatz ruderte ein dick vermummter Mann mit den Armen, er schrie nicht, er fluchte nicht, er schritt nur
     auf und ab und trank zwischendurch aus einer kleinen Schnapsflasche, die Imbißverkäuferin von ›Bistro Flip‹ rief ihm lachend
     etwas zu, er ließ sich aber nicht ablenken.
    Zur rechten Zeit erteilte Hiebe erwecken Vertrauen, Furcht und Liebe, sagte Tyra.
    Ich fuhr herum, sie verfolgte mit den Augen den ruhelosen Mann, sie hatte sich geschminkt und ein strenges schwarzes Kostüm
     angezogen, an ihrem linken Fußknöchel entdeckte ich eine Laufmasche, sie war gekleidet, als wäre sie unterwegs zu einem späten
     Geschäftstermin. Weshalb hatte sie sich diesen Treffpunkt ausgesucht? Das war nicht das Prag der Fremdenführer und der Touristen,
     hier sah man erschöpfte oder still betrunkene Tschechen, und auch wenn auf der anderen Straßenseite das Renaissance-Hotel
     manchen Ausländer |273| anlockte, man hielt sich eher in anderen Vierteln auf. Wahrscheinlich war es typisch für Tyra, ich kannte diese Frau ja kaum,
     wieso sagte sie diese Stickkissenverse auf?
    Sie fing an, stockend darüber zu sprechen, daß sie nicht anders könnte, als sich über wildfremde Menschen Gedanken zu machen,
     und bei dem Mann dort drüben waren ihr die Worte ihrer Großmutter eingefallen, sie würde unter der Erde liegen, dafür dankte
     sie Gott, über den sie nun überhaupt nicht nachdenken würde, und der Mann dort drüben verdiente eine Tracht Prügel, wäre ich
     ein Mann, würde ich zu ihm hingehen und ihm ohne Vorwarnung zwischen die Augen schlagen, sie vermutete jedoch bei mir eine
     Charakterschwäche, die mich zum Memmenhaften triebe, was sie meinte, wäre, daß sie in mir einen feigen Kerl sähe, der sich
     hinter der Schanze duckte und die Ohren zuhielte, obwohl es einem Mann besser anstünde, etwas abzukriegen, sich endlich aufzurichten,
     loszustürmen und etwas abzubekommen, kein Mann wäre ein geborenes Opfer, kein Mann verdiente es wirklich, geprügelt zu werden
     wie ein Hund, doch der Pennertscheche und ich hätten etwas gemeinsam, wir provozierten die Gewalt …
    Ich spuckte aus, die Spucke landete knapp vor ihren Schuhen,

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