Liebesbrand
zum Zahnradstüberl bei der Talstation mit Ausblick auf den
Puchberger Kurpark, Gabriel hatte schon bezahlt und war aufgestanden, und wir schlenderten zum Zug, der in den Farben eines
Feuersalamanders gehalten war, die roten Kunststoffsitze hatten eine Filzeinlage, damit man wohl bei der Rückfahrt wegen des
starken Gefälles nicht abrutschte, und dann erklang auch schon das Pfeifsignal, und der Zug setzte sich ruckend in Bewegung,
die letzten Häuser Puchbergs zogen an uns vorbei, wir fuhren durch den dichten Wald, und die hohen Tannen versperrten die
Sicht auf die Bergkuppen, an der Haltestelle Hauslitzsattel in achthundertdreißig Meter Seehöhe stand ein alter Mann und |334| winkte nicht zurück, ein Bergdorfbewohner, dachte ich dumm, oder vielleicht einfach nur ein Mann, der es satt hat, daß ihn
die Touristen immerzu nur anlächeln, als wäre er ein Schrat. An der Haltestelle Hengsthütte stieg der Schaffner aus und stellte
die Weichen um, wir ruckten höher und höher, Haltestelle Ternitzerhütte, und an der Haltestelle Baumgartner in tausenddreihundertsiebenundneunzig
Meter Seehöhe legte der Schaffner einen Zwischenhalt ein, ich stieg hinter Gabriel aus, Tyra blieb sitzen, ich brachte ihr
eine Topfenbuchtel auf dem Pappteller, fast jeder Ausflugsgast biß jetzt in die puderbestreuten Quarkquader, doch sie lehnte
es ab, zu essen, und ich stieg aus und starrte, mit dem Pappteller in der Hand, auf eine kahle Stelle am Bergrücken gegenüber,
ein heftiger Wind war vor Tagen hineingefahren, erfuhr ich von der Stubenwirtin, und der Wind hatte die Bäume samt ihrer Wurzeln
hochgerissen und umgeworfen, und dann war der Wind in die Schlucht hineingefahren. Wir stiegen wieder ein, es ging auf einem
Grat steil bergan, ich wurde gegen die Rückenlehne gedrückt, es wurde plötzlich dunkel, und es wurde hell, da passierten wir
schon den nächsten Tunnel, und ich nahm geräuschvoll einen Schluck aus der Plastikflasche, und erst als wir an der Endstation
Hochschneeberg ankamen, konnte ich die Wasserflasche weglegen.
Gabriel fing sofort an, Fotos zu schießen, ich blieb stehen und schaute Tyra hinterher, die eine kleine Kirche ansteuerte,
sollte ich ihr folgen, wie so oft? sollte ich sie lassen, wie sie mich immer wieder gebeten hatte? Wenn ich bei ihr war, trieb
ich mich nicht herum, das war die Wahrheit, wenn ich sie sah, strich mein Blick nicht über die Menschen und die Gegenstände,
das war die Wahrheit, nicht in meinem Kopf, aber in meinem Herzen. Tyra war nicht im Gebet versunken, sie blickte mich an,
und dann begann sie zu reden, die alten Frauen in Neapel |335| , flüsterte sie, adoptieren Totenschädel, sie gehen zur Kirche Anime del Purgatorio, zur Kirche der Seelen im Fegefeuer, und
sie stauben die Schädel ab, um die dazugehörigen Seelen in den jenseitigen ewigen Flammen zu erfrischen, es kommt auch vor,
daß eine Frau Knochensplitterchen vom Totenschädel schabt und magische Präparate bereitet. Man ißt Zypressenzapfen, sie gelten
als das Mahl der Toten im Friedhof, nach dem Glauben dieser Frauen sind die Geköpften, sind die Heiligen, denen man den Kopf
abgehackt hat, halb hier, halb dort, halb in dieser, halb in jener Welt, sie haben keine Ruhe, mit ihren Köpfen lauschen sie,
mit ihren Körpern liegen sie, und die alten Frauen kennen sich aus, sie hüten das Geheimnis, das ihnen erlaubt, zu den Geköpften
zu sprechen, sie stehen dann in der Küche und rühren Mandeln, Zucker, Honig und kandierte Früchte zum Totennougat, den sie
auf eine längliche Hostie verstreichen und auf den sie die passende Hostie drücken, man ißt diese Zuckerhonigfrüchtemandelpaste
am Feiertag der Toten, am zweiten November, Allerseelen, und am ersten November, Allerheiligen, und eine feine alte Dame hat
mir gesagt: Die Heiligen sind bei uns nicht entrückt, wir erreichen sie, wir bitten sie zu Tisch, wir sprechen mit ihnen,
wenn wir Nadeln aus dem Nadelkissen ziehen, wir sprechen zu ihnen, weil uns beim Anblick der Nadeln ein Schmerz durchzuckt,
die feine alte Dame hat mir Tee und süßes Gebäck angeboten, wir saßen bei ihr in der Küche, und ich habe ihr verraten, daß
man bei uns die Fürbitten und Gebete für die Verstorbenen Seelgerät nennt, es ist wie die Gerätschaft im Werkschuppen, es
ist wie mit den Geschenken auf dem Gabentisch, daran muß man glauben, denn wenn man nicht glaubt, kommt es einem vor wie eine
böse Stimme, wie ein böser Mann, der zu
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