Liebesbrand
wirklich.
Dann ist ja gut, fuhr sie fort, wenn man von einem hohen Stockwerk aus rausschaut, dann sieht man den Hainberg, man hat einen
sagenhaften Ausblick auf das Umland, aber nicht vom zweiten Stock aus, ich sehe nur die Papierberge auf meinem Schreibtisch.
Wird bei Ihnen auch das Mittelalter gelehrt?
Junger Mann, sagte sie, was glauben Sie, wieso es Seminar für mittlere Geschichte heißt?
Die Stimme täuscht, sagte ich, ich bin knapp über vierzig.
Wollen Sie kokettieren? sagte sie.
Man kann also eine Abschlußarbeit bei Ihnen schreiben?
Bei mir nicht, sagte sie, wir haben einen Professor und eine Professorin.
Ist der Herr Professor zu sprechen?
Nein, sagte sie, er befindet sich auf einem Arbeitsaufenthalt in Prag.
Sehr gut, sagte ich.
Wieso?
Ist mir so herausgerutscht. Könnte ich Ihre Adresse haben?
Platz der Göttinger sieben fünf.
Platz der Göttinger, fünfundsiebzig, wiederholte ich. Nein, sagte sie, der Platz heißt Platz der Göttinger Sieben.
Verstehe ich nicht.
Junger Mann, sagte sie, die Sieben bezieht sich auf die sieben Gelehrten, die gegen die sogenannte Demagogenverfolgung protestiert
haben. Das geschah im neunzehnten Jahrhundert. Unter den Gelehrten waren auch die Gebrüder Grimm – soviel ich weiß, haben
sie Lehrverbot gekriegt. Aber Sie sind ja der Journalist, Sie können recherchieren.
|140| Das werde ich sicherlich tun, sagte ich.
Für welche Zeitung, sagten Sie, schreiben Sie den Artikel?
Ich legte auf.
Ich mußte nach Hause und Koffer packen.
Tyra war in Prag.
Und ich würde nach Prag reisen.
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Wie seltsam, wie seltsam. Dies war die Zeit, in der die Journalisten mit Hinweis auf ihre integren Maulwürfe über Personen schrieben, die ihre Namen
nicht in der Zeitung lesen wollten; wie seltsam, das war doch die Zeit, da die Egoisten das alte Sittengesetz entdeckten,
um sich in ihren Körpern zu verstecken. Und dann saß mir mein bester Freund, von der Sonne südlicher Länder rot gebrannt,
schweigend gegenüber, denn er hatte eine lange Erzählung abgeschlossen, es war darin um sittenstrenge Frauen gegangen, die
abstehende Hautfetzen von ihren Lippen zupfen, um dem ausländischen Mann irgend etwas zu bedeuten.
Mein bester Freund Gabriel trug die rotblonden Haare lang und machte sich nichts aus gefälliger Tagesgarderobe, er gefiel
auf Anhieb oder er gefiel eben nicht, darin war er geübt: im seltenen Beeindrucken von Menschen und Hunden, die erst an seinem
Hosenbein schnupperten, um gleich seine Hand abzulecken. Gabriel war eine augenfällige Erscheinung, denn er sah aus, wie man
sich die Deutschen im nichteuropäischen Ausland vorstellt: groß und breit. Und wie seltsam, daß ihn eine Südländerin wirklich
gemocht hatte, allerdings erst nach dem vierten Abendessen, und trotz Gabriels katastrophalen Südländisch-Kenntnissen hatte
sie ihn verstanden, das las ich aus ihrem Blick, sagte er, nur die kulturelle Geste des Lippenabzupfens habe ich nicht deuten
können, sie hat mir Hoffnung gemacht, sie hat mir ein Zeichen gegeben, da habe ich mich auf sie gestürzt.
|142| Er war zurückgekehrt, das Geld war ihm ausgegangen. Im schwindenden Tageslicht dachte er über mögliche Tollheiten nach, die
er begehen könnte, er wollte sich der Südländerin gegenüber aber auch nicht des unanständigen Verhaltens schuldig machen.
Wir saßen auf der Terrasse eines Imbißstandes am Strand mit Blick auf einen kleinen Sandstreifen, der vom Wasser sanft bespült
wurde, ich konnte in der Ferne auf einer Landzunge graue kastenförmige Bauten ausmachen, und etwas näher am Festland sah ich
das Meer mit kleinen Schaumkronen anrollen und im Himmel herabschwingende Möwen.
Ich will nach Prag, sagte ich. Schöne Stadt, sagte Gabriel.
Es ist nicht wegen der Stadt, es ist wegen einer Frau.
Kenne ich sie?
Nein, sagte ich, wegen ihr bin ich zwischendurch nach Nienburg gefahren. Dort lebt sie eigentlich.
Und jetzt macht sie Urlaub oder ist ausgerissen, sagte er.
Bleibt es unter uns?
Klar.
Sie hat Mann und Kinder, sie hat bald ein fertiges Studium mit Titel. Schöne warme Verhältnisse. Sie braucht mich nicht.
Dann lass’ sie eben in Ruhe, sagte Gabriel.
Das geht schlecht.
Geht immer, sagte er, man muß sich nur zusammenreißen.
Stell’ dir vor, deine Südländerin hätte dich abgewiesen, was dann?
Ich habe genug Geschichten mit schlechtem Ausgang erlebt. Einmal muß es ja klappen.
Das denke ich bei dieser Frau auch, sagte ich.
Hat
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