Liebesdienst
die Neugier besaÃ, den Inhalt des beigefügten Umschlags zu lesen. Wie viele Möglichkeiten gab es, angesichts der Wechselfälle seiner Stimmungen, dass er das Paket ungeöffnet in den Müll beförderte? Er hatte stets sorgsam jede persönliche Begegnung mit mir vermieden. Warum sollte er sich mir jetzt »in Druckform« ausliefern, bis das Gift, das seine toxischen Qualitäten nicht verbarg, in sein System gelangt war? Und selbst wenn man Mariusâ Meinung über mich auÃer Acht lieÃ: Warum sollte er jemandem vertrauen, dessen Anliegen, Unfrieden zu stiften, so unübersehbar war? Der Mensch ist keine Wetterfahne im Wind. Wir sehen Othello und meinen, wir an seiner Stelle hätten anders gehandelt. Wir schulden denen, die wir lieben, Vertrauen. Der geringste Akt des Misstrauens ist eine Herabsetzung ihrer Person. Und unserer Person. Dabei brauchen wir gar nicht so weit zu gehen und uns falsche Bärte anzukleben und ihren Geheimnissen im Park hinterherzuschnüffeln.
Zu all diesen Ãberlegungen kam noch hinzu, dass Marius eben Marius war. Ein Mann, der Zurückhaltung zum moralischen Prinzip erhoben hatte. Ein Mann, der stolz darauf war, über Enttäuschungen und Ãberraschungen erhaben zu sein. Ein Mann, der wochenlang wissen konnte, dass Marisa zwischen den Tintenfässern und Schreibpulten der Wallace Collection etwas für ihn versteckt hatte, ohne dass er sich aufmachte, es zu finden, und der aller Wahrscheinlichkeit nie danach gesucht hätte, wenn meine Wenigkeit nicht interveniert hätte.
Welchen Grund sollte er haben, sich ködern zu lassen?
Nur diesen: Es liegt nicht im menschlichen Wesen, über Misstrauen erhaben zu sein. Ob der ehrliche oder der verlogene Jago â ganz gleich, wer in unser Ohr flüstert, wir sind dazu verdonnert zuzuhören. In unserem tiefsten Innern, an dem Ort, der nur durch das Portal unserer Ohren erreicht werden kann, liegt eine Matrix des Verrats, die geduldig der Bestätigung durch Erfahrungen harrt, sodass jedes gebrochene Versprechen, von dem wir hören, ein gebrochenes Versprechen ist, das wir bereits erwartet haben.
Daraus konnte nur eins folgen: Wenn Marius so weit ging, meinen Umschlag zu öffnen, hatte ich ihn in der Hand.
Aber warum sollte er das Risiko überhaupt erst eingehen? Das eben Gesagte gilt nur, wenn wir zulassen, dass es gilt. Die Männer und Frauen vom Stamme Masoch können die Bestätigung, von der ich oben sprach, kaum erwarten. Man tut gut daran, bis zum Grund ihrer Ãngste vorzustoÃen, und dann ist die Sache erledigt. Für die Männer und Frauen vom Stamme de Sade dagegen â und wir alle, ob Dichter oder Maler, ob Autoren ungeschriebener Bücher oder auch nur Buchhändler, sind Nachfahren des einen oder des anderen â gilt dies nur in dem Sinne, dass sie wissen, dass jede Niedertracht existiert. Perfide sind wir auf allen Ebenen, sagen sie, und das bewahrt sie davor, neugierig zu sein. Tatsächlich ist ihre Grausamkeit nur eine Maske, mit der sie sich vor dem schützen, was sie sonst nicht aushalten würden. Sie sind die eigentlichen Feiglinge. Die Tapferen sind die Masochisten.
Sofern er also Marisa nicht so liebte, wie ich es mir gewünscht hatte â so wie ich sie liebte, mit jener eifersüchtigen Verzweiflung, nach der alles Befürchtete auch eintreten muss; und so wie ich es mir für sie gewünscht hatte, blind, mit bedingungsloser Hingabe und Ergebenheit â, würde er weder das Buch annehmen, das ich ihm geschickt hatte, noch dem Umschlag Beachtung schenken. Er würde sich einfach nur wieder ins Bett verkriechen.
Und dass er in den Regentâs Park kam â diese Hoffnung war so gering wie die Möglichkeit, dass er mein Busenfreund wurde.
Zum Tango trug ich Schwarz, eine bequeme schwarze Bundfaltenhose und ein schwarzes Seidenhemd. Um den Kopf band ich mir zum Spaà ein schwarzes Tuch. Andere Männer meines Alters setzten gerne die etwas gestauchten, flachen Herrenhüte auf, nach dem Vorbild der argentinischen Zuhälter. Ich beneidete sie um das Anrüchige, aber ich wusste auch, dass es mir nicht stehen würde. Bei mir war ja schon ein Tuch kritisch, doch es war ein heiÃer Tag, und ein Piratentuch konnte auch als SchweiÃband durchgehen.
Ich gebe nicht viel auf südamerikanische Musik, doch Marisa hörte diese Musik gerne, und ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, wenn auch mit wenig Erfolg,
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