Liebesdienst
Jahren war meine Mutter selten vor Mittag aus ihrem Zimmer hervorgekommen, so viel musste sie mit sich anstellen, bevor sie bereit war, der Welt gegenüberzutreten. Marisa sprang in den Tag, noch bettwarm, als könnte sie es kaum erwarten, sich dem Leben zu stellen.
An den beiden Tagen, an denen sie nachmittags bei Oxfam arbeitete, besuchte ich sie im Laden und tat so, als würde ich in den Bücherregalen stöbern. Ich kam nur, um sie zu sehen, um sie im Gespräch mit anderen Leuten zu beobachten, um ihre Stimme zu hören und sie zum Lachen zu bringen, wenn ich hinter einem Stapel auftauchte. Sie tat es mir gleich. Sie begleitete mich zu unseren Geschäftsräumen, und wenn ich sechs Stunden später aus dem Kellergeschoss hervorkam, war sie wieder da, als wäre sie nie fort gewesen, mit leuchtendem Antlitz. Unterwegs machten wir irgendwo Pause und tranken Tee. Dann machten wir wieder irgendwo Pause und tranken ein Glas wie Verliebte, die nicht auseinandergehen wollen, obwohl uns nichts davon abhielt, auf kürzestem Weg nach Hause zu gehen und uns dort durch die Zimmer zu folgen. Wir lachten ständig ohne Grund, und jetzt lachte Marisa im Präsens, auÃer sich vor Freude über unseren Zustand. Wir unternahmen lange Spaziergänge quer durch London, unsere Hände wie miteinander verschmolzen. Die Leute lächelten, wenn sie uns sahen. Ich bin sonst kein Mensch, den Fremde ansprechen würden. Ich will nicht behaupten, dass meine Miene sie abstöÃt, aber ich mache es anderen nicht leicht, mich von meiner Konzentration abzulenken. Auch Marisa kann sehr abweisend sein. Während sich mein Gesicht verschlieÃt, spricht aus ihrem eine wache Intelligenz, die einen zögern lässt, es mit ihr aufzunehmen. Doch in dieser Stimmung war es, als würden wir jeden, der in unsere Nähe kam, mit in unser Glück hineinziehen. Ãltere Damen setzten sich auf Parkbänken neben uns. Kinder ebenfalls. Hunde spielten zu unseren FüÃen. Wir waren nicht nur fröhlich unschuldig verliebt, wir waren der Auslöser für fröhliche unschuldige Liebe bei anderen.
Mit jedem Tag wurde Marisa für mich bezaubernder. Die Schatten unter ihren Augen verblassten. Die Spitze ihrer strengen Römernase hob sich leicht. Ihre Lippen entspannten sich und wurden weicher. Ein Licht schien in ihrem Inneren angeschaltet worden zu sein. An einem besonders belebenden Frühlingsmorgen gingen wir bei Tagesanbruch im St. Jamesâs Park spazieren, die Bäume waren noch feucht von der Nacht. Auf einer Bank saà ein Pelikan, schwerfällig und wundersam wie ein Engel, und klapperte mit seinem Salatbesteck-Schnabel. Marisa bat mich, zu ihm zu gehen und einen Arm um seine Schulter zu legen. »Lachen«, bat sie mich und machte ein Foto mit ihrem Handy.
Und ich schwöre, der Pelikan hat in dem Moment gelacht.
»Schwer zu sagen, wer von euch beiden weniger flugunfähig aussieht«, stellte Marisa fest.
»Er natürlich«, antwortete ich.
Es war die Wahrheit. An diesem Morgen fühlte ich mich unbeschwerter als alle anderen Lebewesen im Park, ausgenommen Marisa.
Eine Elster kreuzte unseren Weg. »Guten Tag, Herr Elster«, sagte Marisa. »Wie geht es Frau Elster?«
Ich fragte sie, was das bedeuten solle. Sie staunte, dass ich den Aberglauben nicht kannte. Eine einzelne Elster brachte Unglück. Man musste sich das Paar vergegenwärtigen.
Beinahe wäre ich in Tränen ausgebrochen. Der Aberglaube anderer Menschen hat immer diese Wirkung auf mich. Mir ist, als sähe ich in diesem Moment der Offenbarung ihre ganze einstige kindliche Zerbrechlichkeit vor mir. Ich liebe es, das Mädchen in der Frau zu sehen. Es bricht mir das Herz. Und so sah ich plötzlich auch Marisa â als kleines Mädchen, das durch den Park hüpft und von ihrer kapriziösen Mutter zu sagen lernt: »Guten Morgen, Herr Elster. Wie geht es Frau Elster?«
Wir küssten uns unter den jungfräulichen, taufrischen Zweigen eines Weidenbaums, saugten das neu erblühte Grün in uns auf wie verzückte Eltern, die zum ersten Mal das duftende Haar ihres Kindes riechen.
Als wir den schützenden Baumunterstand verlieÃen, sah ich, dass winzig kleine Diamanten aus Wasser wie Zuchtperlen an Marisas Wimpern hingen. Das Bild stammt von Thomas Hardy: Tess, in einem seltenen Augenblick des Glücks. Denn so sah ich Marisa, in all ihrer verletzten Unschuld. Eine, der eine
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