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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gab keinen offenkundigen Grund dafür. Eine rote Stelle an ihrer Schläfe, das war alles. Die Chance war eins zu einer Million, vermutete er – ein gebrochener Halswirbel oder eine Gehirnblutung. Danach las er monatelang Bücher über Kopfverletzungen.
    Es brauchte nur ganz wenig. Wenn sie keine hochhackigen Schuhe getragen hätte, wenn der Teppich nicht ausgefranst gewesen wäre, wenn er so vernünftig gewesen wäre und begriffen hätte, dass sich ein Mädchen wie sie nie im Leben ernsthaft für ihn interessieren könnte. Einen Augenblick sah er die Szene mit den Augen anderer – des Hotelmanagements, der Männer im schwarzen Leder, der Polizei, des britischen Konsuls, des Paars aus Gravesend, des sterbenden Lebensmittelhändlers. Keine Chance, dass auch nur einer von ihnen die Situation zu seinen Gunsten interpretiert hätte.
    Panik überwältigte ihn. Panik pulsierte in seiner Brust, wirbelte durch sein Gehirn wie ein Zyklon, eine Woge von Adrenalin, die durch seinen Körper spülte und alle Gedanken wegwusch bis auf einen –
du musst sie loswerden
. Er schaute sich im Zimmer um, ob etwas von ihr herumlag. Er sah nur ihre Handtasche, prüfte, ob sich etwas darin befand, was ihn belasten würde, ein Zettel mit seinem Namen und der Adresse des Hotels. Nichts, nur eine billige Geldbörse, ein paar Schlüssel, ein Taschentuch, ein Lippenstift. Ein Foto in einer Brieftasche aus Plastik. Das Foto eines Babys von unbestimmtem Geschlecht. Martin weigerte sich, über die Bedeutung dieses Babyfotos nachzudenken.
    Er riss das Fenster auf. Es war der siebte Stock, aber das Fenster ließ sich ganz öffnen – keine Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften im Kakerlakenhotel. Er zog sie zum Fenster, dann fasste er sie in einer linkischen Umarmung um die Taille wie ein schlechter Tänzer und hievte sie aufs Fensterbrett. Er hasste sie, weil sie sich wie eine unnachgiebige Puppe, wie ein Sandsack für Bajonettübungen verhielt. Er hasste sie dafür, dass sie halb im Zimmer, halb draußen hing, als ob ihr alles gleichgültig wäre. Eine russische Puppe. Auf der Straße war es totenstill. Wenn sie aus dem siebten Stock fiele, wenn sie auf dem Gehweg gefunden würde, wüsste niemand, ob sie gesprungen oder gestoßen worden oder betrunken aus dem Fenster gefallen war. Ihr Blut musste zu nahezu hundert Prozent aus Alkohol bestehen, so viel, wie sie getrunken hatte. Niemand könnte auf sein Fenster deuten und sagen:
Dort, Martin Canning, der britische Tourist, aus seinem Fenster kam sie.
Unten stand ein riesiger Container mit Bauschutt. Er wollte nicht, dass sie dort hineinfiel, weil es dann ausgesehen hätte, als wollte jemand ihre Leiche loswerden.
    Er legte ihr den Riemen der Tasche um den Hals, schob dann ihren Arm durch, fasste sie um die Knie, hob und zerrte, bis sie fiel.
    Wenn er auf den Container gezielt hätte, er hätte ihn verfehlt, aber weil er wollte, dass sie auf dem Gehweg auftraf, stürzte sie direkt in den Container, drehte sich in der Luft, bevor sie mit einem knirschenden Geräusch, das Gesicht nach oben, auf dem Holz, den Steinen und dem zerbrochenen Verputz aufprallte. Ein streunender Hund wich erschrocken zur Seite, aber sonst blieb es still auf der Straße. Er schloss das Fenster.
    Er setzte sich in eine Ecke des Zimmers und zog die Knie an. In dieser Position blieb er lange Zeit, zu erschöpft, um irgendetwas anderes zu tun. Er sah zu, wie die Dämmerung ins Zimmer drang, und dachte an Irinas blinde Augen, die es nicht mehr hell werden sahen. Eine Kakerlake krabbelte über seinen Fuß. Er hörte die erste Tram auf der Straße. Er wartete auf die Bauarbeiter, stellte sich vor, wie sie auf das Gerüst kletterten, hinuntersahen und die Frau entdeckten, die wie eine weggeworfene Puppe dalag. Er fragte sich, ob er ihre Rufe in seinem Zimmer hören würde.
    Er hörte einen starken Motor, ein knirschendes Getriebe und kroch zum Fenster. Der Container schaukelte in der Luft, aus der Höhe sah er aus wie ein Kinderspielzeug. Irgendwie hatte er gehofft, dass sie in der Zwischenzeit verschwunden wäre, aber sie war noch da, zerbrochen und schlaff. Der Container wurde auf die Ladefläche eines riesigen Lastwagens gehoben und mit einem lauten metallischen Klonk abgesetzt, das durch die kalte Luft hallte. Der Lastwagen fuhr davon. Martin blickte ihm nach, wie er langsam die Straße entlangrollte, auf die Brücke über die Newa fuhr. Am Ende der Brücke verschwand er aus seinem Blickfeld.
    Er hatte ein menschliches

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