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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gewesen. Graham hatte einen supermodernen Anzug an in der Farbe, die in Glorias Kindheit alle vergnügt »negerbraun« genannt hatten. Gloria trug einen Pelzmantel, den sie in einem Secondhand-Laden am Grassmarket gekauft hatte. Der Mantel im Stil der vierziger Jahre war aus kanadischem Biber, gefertigt zu einer Zeit, als noch keiner darüber nachdachte, ob es falsch war, Pelz zu tragen. Heutzutage hätte Gloria nicht mehr die Haut eines anderen Tieres über ihre eigene gezogen, aber so, wie sie es jetzt sah, waren die Tiere damals bereits lange tot gewesen und hatten das glückliche, unkomplizierte Leben kanadischer Vorkriegsbiber gelebt.
    Wenn Gloria das weiße ledergebundene Album hätte, wäre darin das Andenken an ihre Mutter, ihren Vater und ihre ältere Schwester bewahrt. Und natürlich an Jill, »die Erste, die von uns gegangen ist«, die mit einer Schar Schulfreundinnen gekommen war und bis tief in die Nacht getrunken hatte, lange nachdem alle anderen schon zu Bett gegangen waren. Glorias Bruder Jonathan wäre nicht auf den Fotos, er war bereits mit achtzehn gestorben. Gloria war erst vierzehn, als Jonathan starb, und das Kind in ihr hatte angenommen, dass er irgendwann zurückkommen würde. Jetzt, da sie älter war und wusste, dass er nicht mehr zurückkehren würde, vermisste sie ihn noch mehr als damals.
    Während sie zusah, wie die jungen Polizistinnen in ihren Streifenwagen stiegen, dachte Gloria an Graham, wie er auf einem Doppelbett lag, das furnierte Kopfende hinter sich, und durch die Fernsehkanäle zappte, während er ein Steak mit Pommes frites und einer erbärmlichen kleinen Salatgarnitur aß, eine halbe Flasche Rotwein trank und auf die Frau wartete, die professionellen Sex mit ihm haben sollte. Wie oft hatte er sie schon auf diese schäbige Weise betrogen, während sie zu Hause saß, allein vor dem Bang & Olufsen BeoVision Avant? Hatte sie es nicht tief in ihrem Innern gewusst? Unbedarftheit war keine Entschuldigung für Unwissenheit.
    Beiläufig schaute Gloria an sich hinunter. Sie hatte eine unförmige kamelhaarfarbene Strickjacke aus Kaschmir von Jenners an, mit Messingknöpfen, die man nur als geschmacklos bezeichnen konnte. Und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie die Art Kleidung trug, die ihre Mutter getragen hätte, so sie mehr Geld gehabt hätte. Das matronenhafte Kaschmir schien etwas zu bestätigen, was Gloria schon eine Weile vermutete, nämlich dass sie geradewegs von der Jugend ins Alter übergewechselt und die gute Zeit dazwischen irgendwie ausgelassen hatte.
    Das war kein unbekanntes Gefühl. Gloria hatte oft den Eindruck, ihr Leben sei eine Reihe Räume, die sie erst betrat, kaum hatten alle anderen sie bereits verlassen. Bei ihrer Geburt war der Krieg ein knappes Jahr zu Ende und in ihrem Elternhaus noch omnipräsent. Ihr Vater hatte »mit Monty« gekämpft – als hätten sie Seite an Seite in der Schlacht gestanden –, während ihre Mutter sich an der Heimatfront engagierte, heroisch Gemüse anbaute und Hühner hielt.
    Gloria wuchs in dem Gefühl auf, etwas Bedeutendes unwiederbringlich verpasst zu haben (was natürlich stimmte), als wäre dadurch ihr Leben geschmälert. Ebenso erging es ihr mit den sechziger Jahren. Letztlich hatte sie ihre prägenden Jahre in dem Niemandsland zwischen zwei revolutionären Epochen verbracht. Als die Sechziger in vollem Gange waren, war Gloria bereits verheiratet und schrieb Einkaufslisten auf abwaschbare »Memotafeln«.
    Hätte Gloria noch einmal von vorn anfangen können, sie wäre im Pub auf der George IV Bridge nicht vom Barhocker gerutscht und mit Graham gegangen. Sie hätte zu Ende studiert, wäre nach London gezogen, hätte hohe Absätze und schlichte Businesskostüme getragen (und ihre Figur behalten), an Wochenenden getrunken und mit so vielen verschiedenen Männern geschlafen, dass sie sich nicht mehr an ihre Namen, geschweige denn an ihre Gesichter erinnern könnte. Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass die Auktion bei eBay zu Ende war. Ob jemand sie bei den Staffordshire-Windhunden überboten hatte? Noch auf der Schwelle zum Tod war auf Graham Verlass, wenn es darum ging, ihr den Spaß zu verderben.
     
    Auf der Fahrt zu dem neuen Krankenhaus in Little France übte Gloria die Art Gespräch, die sie mit Graham führen wollte. Obwohl ihr Gemma und Clare erklärt hatten, dass er bewusstlos war, hatte sich Gloria nicht vorgestellt, dass er deswegen nicht reden konnte. Graham
redete
, das machte ihn zu Graham, und als

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