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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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sie in der Notaufnahme eintraf, wo er an ein Sortiment blinkender und piepender Monitore angeschlossen war, erwartete sie, dass er den Mund aufmachte und etwas typisch Graham’sches sagte (»Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen, Gloria«). Seine absolute Passivität verwirrte sie.
    Der Arzt in der Notaufnahme erklärte, dass Grahams Herz »überlastet« gewesen und stehen geblieben sei. Sein »System« sei lange Zeit »unten« gewesen, was den derzeitigen komatösen Zustand zur Folge hatte, von dem er sich eventuell wieder erholen würde oder auch nicht. »Wir schätzen«, sagte der Arzt zu Gloria, »dass ungefähr einer von hundert Männern während des Geschlechtsaktes stirbt. Der Puls eines Mannes, der mit seiner Frau schläft, beträgt neunzig Schläge pro Minute, mit einer Geliebten steigt er auf einhundertsechzig.«
    »Und mit einem Callgirl?«, fragte Gloria.
    »Schießt er vermutlich noch höher«, sagte der Arzt gut gelaunt. »Er hätte natürlich schneller reanimiert werden können, wenn er nicht gefesselt gewesen wäre.«
    »Gefesselt?«
    »Das Mädchen, das bei ihm war, hat versucht, ihn wiederzuleben, sie scheint recht einfallsreich zu sein.«
    »Gefesselt?«
     
    Gloria fand das fragliche einfallsreiche Callgirl mit dem Clownsnamen Jojo im Wartezimmer der Notaufnahme. Ihr richtiger Name war offenbar Tatiana.
    »Ich bin Gloria«, sagte Gloria.
    »Hallo, Gloria«, sagte Tatiana. Ihre satten L ließen die Begrüßung etwas düster klingen, als wäre sie eine Schurkin aus einem James-Bond-Film.
    »Seine Frau«, stellte Gloria klar.
    »Ich weiß. Graham spricht von Ihnen.«
    Gloria fragte sich, zu welchem Zeitpunkt einer Transaktion zwischen Graham und einem Callgirl ihr Name fallen könnte. Vorher, nachher – während?
    »Nicht während«, sagte Tatiana. »Er kann nicht sprechen während.« Auf Glorias unausgesprochene Frage hin zog sie die ausdrucksstarken Augenbrauen in die Höhe. »Knebel«, ergänzte sie.
     
    »Knebel?«, murmelte Gloria über einer Tasse Kaffee und einem Blätterteiggebäck im Café des Krankenhauses. Es war das erste Mal, dass sie im neuen Royal war, und sie war leicht desorientiert aufgrund der Tatsache, dass es einem Einkaufszentrum glich.
    »Damit er nicht schreit«, sagte Tatiana sachlich und entrollte den Wirbel einer Rosinenschnecke, bevor sie ihn anmutig auf eine Weise kaute, die Gloria an die Eichhörnchen in ihrem Garten erinnerte.
    Gloria runzelte die Stirn und versuchte sich vorzustellen, wie man in einem Apex Hotel ans Bett gefesselt werden konnte (keine Bettpfosten). »Was sagt er?«, fragte sie. »Wenn er reden kann.«
    Tatiana zuckte die Achseln. »Dies und das.«
    Gloria fragte: »Woher kommen Sie?«, und Tatiana sagte: »Tollcross«, und Gloria sagte: »Nein, ich meine ursprünglich«, und das Mädchen blickte sie aus seinen grünen Katzenaugen an und sagte: »Aus Russland, ich bin Russin«, und einen Augenblick lang sah Gloria endlose Wälder schlanker Birken und das Innere verrauchter fremdländischer Kaffeehäuser vor sich, obwohl das Mädchen wahrscheinlich in einem Betonhochhaus in einem entsetzlich trostlosen Vorort gelebt hatte.
    Sie trug Jeans und ein ärmelloses Top. War das ihre Arbeitskleidung?
    »Nein«, sagte sie, »hier ist Kostüm«, und deutete auf den Inhalt einer großen Tasche, die sie dabeihatte.
    Gloria warf einen Blick auf Gürtelschnallen und Leder und eine Art Korsett, das Gloria einen surrealen Augenblick lang an das fleischfarbene medizinische Korsett ihrer Mutter erinnerte.
    »Er ist gern unterwürfig.« Tatiana gähnte. »Mächtige Männer, sie sind alle gleich. Graham und seine Freunde.
Idjoten.«
    Seine
Freunde?
»Oh, Gott.« Gloria dachte an Pams Mann Murdo. Sie dachte an Pam, wie sie in ihrem brandneuen Audi 8 herumgondelte, in den Bridge-Club fuhr, ins Fitness-Center, ins Plaisir du Chocolat zum Nachmittagstee. Während Murdo – was tat? Gloria schauderte.
    Sie seufzte. War es das, was Graham wirklich wollte, nicht legere Kleidung von Windsmoor and Country Casuals, keine geschmacklosen Messingknöpfe, sondern eine Frau, die jung genug war, um seine Tochter zu sein, und die ihn verschnürte wie einen Truthahn? Es war seltsam, wie etwas, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte, trotzdem keine Überraschung war.
    Gloria bemerkte die winzigen goldenen Kruzifixe in Tatianas Ohren. War sie gläubig? Waren Russen jetzt, da sie keine Kommunisten mehr waren, religiös? Sie konnte nicht fragen, das tat man nicht. Nicht in

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