Liebesdienste / Roman
unendliche Serie Spiegel. Martin dachte daran, eine Geschichte zu schreiben, eine Konstruktion à la Borges, in der eine Geschichte den Kern der nächsten enthielt und so weiter. Natürlich keine Nina Riley – mehr als eine lineare Erzählung konnte sie nicht vertragen –, sondern etwas mit intellektuellem Anspruch (etwas Gutes).
Martin hatte nie zuvor über Matroschkas nachgedacht, doch hier in St. Petersburg schienen ihre Reihen omnipräsent und unvermeidbar. Seine Mitreisenden, die über Nacht zu Experten für russische Volkskunst geworden waren, plapperten die ganze Zeit darüber, was für eine Puppe sie als Mitbringsel kaufen wollten. Sie spekulierten, wie viel Puppe sie für ihre Rubel bekommen würden, und die allgemeine Ansicht war, dass die Russen sie übers Ohr hauen wollten, aber sie wollten alles tun, um die Russen ihrerseits übers Ohr zu hauen. »Sie haben sich dem Kapitalismus verschrieben«, sagte ein Mann, »jetzt müssen sie auch die verdammten Konsequenzen tragen.« Martin wusste nicht, ob »verdammt« als Kraftausdruck oder rein deskriptiv gemeint war. Martin war früher schon aufgefallen, dass diese Art Reisen häufig ein nicht unerhebliches Ausmaß an Xenophobie generierten, so dass die Touristen – kleine Briten, die beständig ein Rückzugsgefecht führten, auch wenn sie die Wunder von Prag oder das betörende Bordeaux bestaunten – die Einheimischen als feindselige Schurken betrachteten.
Das Geschäft im Foyer ihres mit Kakerlaken verseuchten Hotels – heiß, hell erleuchtet, die Wände mit Glas verkleidet – hatte Puppen zu überhöhten Preisen im Sortiment. Niemand kaufte dort etwas, und Martin verbrachte an einem Abend eine Stunde dort und sah sich unter den enttäuschten Blicken der Verkäuferin um (
Ich möchte mich nur umsehen
, murmelte er kleinlaut), studierte, schätzte und verglich Puppen, um sich auf die Realität der rauen Einzelhandelsaktionen auf den Straßen von St. Petersburg vorzubereiten. Es gab dicke und dünne, große und kleine Puppen, aber die Gesichter schienen alle ähnlich zu sein, kleine, schmollende Rosenknospenmünder und große blaue Augen, die Lider aufgerissen in dem permanent entsetzten Starren von Sexpuppen.
Es gab auch Puppen in Form von Katzen, Hunden, Fröschen, es gab amerikanische Präsidenten und sowjetische Führer, es gab Sätze mit fünf und fünfzig Puppen, es gab Kosmonauten und Clowns, es gab grob gefertigte Puppen und wunderschöne, die von echter Künstlerhand bemalt waren. Als er das Geschäft im Hotel verließ, war Martin schwindlig, vor seinen Augen schwammen die endlosen Bilder von Puppengesichtern, und als er sich in sein schmales, unbequemes Bett legte, träumte er, dass er von einem riesigen Freimaurerauge am Himmel beobachtet wurde, das sich in das Auge am Boden des Nachttopfs seiner Großmutter verwandelte. Unter dem gemalten Auge befand sich eine laszive Inschrift: »Was ich sehe, werde ich nie sagen.« Er wachte schweißgebadet auf, seit Jahren hatte er nicht mehr an seine Großmutter gedacht, ganz zu schweigen von ihrem Nachttopf. Sie war in einem viktorianischen Jahrhundert geboren und hatte es nie wirklich hinter sich gelassen, ihre Arbeiterwohnung in einer Fountainbridge-Mietskaserne war dunkel und düster gewesen, eingerichtet mit Chenille und muffigem Samt. Sie war vor langer Zeit gestorben, und Martin war überrascht, dass er sich überhaupt an sie erinnerte.
»Ich werde meiner kleinen Großnichte so eine Puppe mitbringen«, sagte der sterbende Lebensmittelhändler, als sie auf die Reihen der Stände blickten. Es fing wieder an zu schneien, große nasse Flocken frühen Schnees, die schmolzen, sobald sie auf Asphalt oder Haut trafen. Am Vortag hatte es geschneit, und jetzt waren die Straßen mit grauem Matsch bedeckt. Die Luft war feindselig vor feuchter Kälte. Der Lebensmittelhändler beschloss, eine Fellmütze mit Ohrenklappen zu kaufen, und feilschte mit dem Verkäufer um den Preis. Martin fragte sich, worin der Sinn des Handelns bestand, wenn man dem Tod so nahe war. Vielleicht starb der Lebensmittelhändler gar nicht und behauptete es nur, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Martin konnte ihm entwischen, während er in die Verhandlungen um seine Mütze vertieft war. Der Mann zerstörte ihm den Zauber Russlands, am Morgen hatte er sich in der Eremitage an Martins Fersen geheftet und sich die ganze Zeit über die opulente Ausstattung beschwert (aber darum ging es doch) und sich vorgestellt, was
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