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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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brachte sie zu Oxfam.
    »Irina«, sagte sie, streckte die Hand aus und schüttelte seine. Als sie sich das Kopftuch abnahm, fiel ihr das Haar weit über den Rücken.
    »Martin«, sagte Martin.
    »Marty«, sagte sie und lächelte ihn an. Er korrigierte ihren Fehler nicht. Nie zuvor hatte ihn jemand Marty genannt. Ihm gefiel, dass »Marty« nach einem unterhaltsameren Mann klang, als er, wie er wusste, war.
    Er versuchte, Irina zu erklären, dass er Schriftsteller war, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstand. »Dostojewski«, sagte er, »Puschkin.«
    »Idjot!«,
rief sie, ihr hübsches Puppengesicht plötzlich lebhaft. »Hier ist
Idjot.«
Erst später wurde ihm klar, dass das Café, in dem sie saßen, Der Idiot hieß.
    Er wollte sie ein wenig mit seinem Erfolg beeindrucken. Normalerweise sprach er nie mit anderen über seine beruflichen Errungenschaften. Melanie, seine Agentin, fand, er sei nicht erfolgreich genug und könne noch besser werden. Die paar Freunde, die er hatte, waren überhaupt nicht erfolgreich, und er wollte nicht, dass sie glaubten, er wolle angeben. Seiner Mutter war es gleichgültig, und sein Bruder war neidisch, deswegen erachtete er es für das Beste, seine kleinen Triumphe für sich zu behalten. Aber Irina sollte wissen, dass er in seinem Heimatland keine völlig bedeutungslose Person war
(Er verkauft sich mit jedem Buch besser),
doch sie lächelte nur und leckte sich ein paar Krümel von der Lippe. »Klar«, sagte sie.
    Als sie mit dem Essen fertig war, stand sie unvermittelt auf und sagte, ohne auf die Uhr zu blicken: »Ich gehe.« Sie trank ihren Becher leer, während sie in ihren Mantel schlüpfte, und ihre Gesten hatten etwas Gieriges, was Martin Bewunderung abverlangte.
    »Heute Abend?«, sagte sie, als hätten sie bereits eine Verabredung getroffen. »Kaviarbar in Grand Hotel, sieben Uhr. Okay, Marty?«
    »Ja, okay«, sagte Martin hastig, denn sie ging bereits zur Tür und hob die Hand zum Gruß, ohne zurückzublicken.
    Als er das Café verließ, schneite es heftig. Alles schien sehr romantisch, der Schnee, das Mädchen mit dem blonden Haar unter dem Kopftuch, wie Julie Christie in
Doktor Schiwago
.
     
    Er starrte in den stockfleckigen Spiegel im Bad des Four Clans. Vielleicht war ihm so schlecht, weil er am Verhungern war? Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal etwas Anständiges gegessen hatte. Ein Schauder lief durch seinen Körper, und im nächsten Moment kniete er vor der Toilettenschüssel, hielt sich daran fest und übergab sich heftig. Er spülte die Toilette, und als er in den Wirbel des Erbrochenen starrte, das zusammen mit einer hässlich blauen Chemikalie aus dem Wasserbehälter weggespült wurde, traf ihn ein unerwarteter Gedanke –
    Ausgeraubt? Natürlich!
    Er hastete aus dem Bad und suchte in seinem Jackett nach der Brieftasche. Weg. Er seufzte schwer in Anbetracht der vielen lästigen Anrufe, die er bei der Bank und den Kreditkartenfirmen würde machen müssen. Sein Führerschein und hundert Pfund in bar waren zudem in der Brieftasche gewesen, und dann – ein Albtraum – fiel ihm der kleine fliederfarbene Memorystick von Sony ein, das Stück Plastik, das »Tod auf Black Isle« enthielt. Weg. Eine kalte Welle der Panik überrollte ihn, gefolgt von heißer Erleichterung – der Roman war auch auf einer CD in seinem »Büro« gespeichert. Martin hatte Paul Bradley das Leben gerettet und war dafür bestohlen worden. Der Verrat verletzte Martin so sehr, dass ihm tatsächlich Tränen in den Augen brannten.
     
    In dem Mief aus Speck und Schottenkaro an der Rezeption empfand er so etwas wie eine
Marie-Celeste
-artige Verlassenheit. Er drückte auf die Messingklingel, und nach einer langen Wartezeit tauchte ein Jugendlicher in Küchenuniform auf. Mit atemberaubender Langsamkeit fuhr er mit dem Finger das Register hinunter und bestätigte, dass Paul Bradley ausgecheckt hatte.
    »Nichts mehr zu zahlen«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Sie können gehen«, sagte er, als würde er Martin aus dem Gefängnis entlassen.
    Martin sagte dem Jungen nicht, dass er ausgeraubt worden war, er wirkte nicht wie jemand, den das interessiert hätte. Und warum auch? Martin hatte das Gefühl, dass er irgendwie bekommen hatte, was er verdiente.

22
    G loria erwachte früh und ging leise die Treppe hinunter, als wäre jemand anders im Haus, den sie wecken könnte, aber sie war herrlich allein. Als Graham noch da war, dröhnte und hallte das

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