Liebesdienste / Roman
tastete nach seiner Brille, dabei fiel das Telefon auf den Boden. Auch mit der Brille auf der Nase hatte er das Gefühl, als wären seine Augen mit Vaseline verschmiert. Als er das Telefon endlich aufgehoben hatte, zwitscherte es nicht mehr. Er schaute auf das Display –
1 Anruf in Abwesenheit
. Er rief die Anrufliste ab.
Richard Moat
. Richard fragte sich wahrscheinlich, wo er die Nacht über gesteckt hatte, obwohl er nicht unbedingt die Sorte Mensch war, die sich Sorgen machte. Wahrscheinlicher war es, dass er sich etwas ausleihen wollte.
Martin legte das Telefon auf den Nachttisch und starrte auf eine Frau, die auf einem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ihr Mund war aufgerissen zu einem lautlosen ovalen Schrei, während die Flammen von den Holzstapeln auf ihren Körper übergriffen. Es war ein Druck von einem Holzschnitt, der an der Wand hing, »Old Edinburgh« stand darunter. Als Nor’ Loch trockengelegt wurde, um die Princes Street Gardens anzulegen, entdeckte man, dass sich dort nicht nur die Abwässer und Abfälle der Stadt abgelagert hatten, sondern dass es auch die letzte Ruhestätte ihrer Hexen war – mit den Daumen an die Zehen gefesselte Skelette, wie bratfertiges Geflügel. Und das waren nur die Unschuldigen, die hinuntergesunken und ertrunken waren. Martin hatte es nie verstanden. Man sollte annehmen, dass Unschuld eine luftig leichte Substanz war, die einen schweben ließ, dass das Böse schwer war und auf den Grund sank, in den schleimigen stinkenden Schlamm.
Jetzt stand an der Stelle, wo die Hexen verbrannt worden waren, ein teures Restaurant, in dem die Creme der Edinburgher Bourgeoisie speiste. So war die Welt, sie machte Fortschritte, aber sie wurde nicht besser.
Martins Nacken schmerzte, und seine Glieder fühlten sich an, als wären sie die ganze Nacht verknotet gewesen, als wäre auch er gefesselt gewesen. Er lag im Bett, aber er erinnerte sich nicht daran, sich neben Paul Bradley gelegt, die Brille abgenommen und die Schuhe ausgezogen zu haben. Er war erleichtert, dass er noch vollständig bekleidet war. Der Geruch nach gebratenem Speck erfüllte das Zimmer, und ihm wurde schlecht. Er spähte auf die Digitaluhr im Radio neben dem Bett – zwölf Uhr, er konnte nicht fassen, dass er so lange geschlafen hatte. Keine Spur von Paul Bradley – keine Reisetasche, kein Jackett, nichts –, der Mann konnte genauso gut nie existiert haben. Die Pistole fiel ihm ein, und sein Herz schlug einen kleinen Salto. Er hatte die Nacht in einem Hotelzimmer (im selben Bett!) mit einem vollkommen Fremden und einer Pistole verbracht. Mit einem Meuchelmörder.
Vorsichtig klappte er seinen Körper auseinander und senkte die Beine auf den Boden. Ein Krampf in seiner Lendenwirbelsäule stoppte ihn, und erst als er sich gelöst hatte, konnte er aufstehen und auf wackligen Beinen ins Bad wanken. Seine Mundhöhle schien aus Pappe zu sein, sein Kopf riesengroß, zu schwer für den Stängel seines Halses. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm eine Narkose verpasst worden, und für einen paranoiden Augenblick blieb sein Herz stehen, weil er dachte, dass Paul Bradley vielleicht Teil eines komplexen Komplotts war mit dem Ziel, unschuldigen Mitmenschen Organe zu entnehmen. Oder eine Kohlenmonoxidvergiftung? Der Beginn der berühmten Sommergrippe oder das Ende eines Irn-Bru-Katers?
Er stillte seinen ungeheuren Durst mit chemisch schmeckendem Leitungswasser und betrachtete sich im Badezimmerspiegel, entdeckte aber keine sichtbaren Operationsnarben. Rohypnol? Vergewaltigung? (Das müsste er doch wissen?) Etwas war mit ihm geschehen, aber er hatte keine Ahnung, was. War ihm eine bewusstseinsverändernde Droge eingeflößt worden, die ihn in den Wahnsinn trieb? Aber warum sollte jemand so etwas tun? Vielleicht die Götter, die ihn als Nächstes vernichten würden. Sie hatten den rechten Augenblick abgewartet, es war über ein Jahr vergangen seit Russland, seit dem
Zwischenfall
.
Am letzten Tag ließ Maria, ihre Reiseleiterin, sie auf einem Markt irgendwo hinter dem Newski Prospekt allein losziehen. Ein Stand neben dem anderen bot Souvenirs an – Matroschkas, lackierte Schachteln, bemalte Eier, Erinnerungen an die kommunistischen Zeiten, mit Orden der Roten Armee dekorierte Fellmützen. Aber vor allem Puppen, Tausende von Puppen, Legionen über Legionen von Matroschkas, nicht nur jene, die man sehen konnte, sondern auch unsichtbare – Puppen in Puppen, die sich endlos replizierten und kleiner wurden wie eine
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