Liebesfluch
wahr, registriere den blassen Perlmuttlack auf den Zehennägeln, dann, als mein Blick hochwandert, sehe ich das große Küchenmesser. Ihre Hand hält es so fest umklammert, dass ihre Nägel fast so hell wirken wie ihr dünnes weißes T-Shirt. Ihr müdes Gesicht starrt mich ausdruckslos an.
Als ich hastig aufstehe und zur Seite taumle, ringt Anja sich ein entschuldigendes Lächeln ab.
»Ich habe so verstohlene Geräusche gehört und gedacht, es wären diese Einbrecher, die hier die Gegend unsicher machen.« Sie legt das Messer auf das Sideboard vor die Fotos und wischt ihre Hand am T-Shirt ab, als wäre sie befleckt worden.
»Wie gut, dass ich mich getäuscht habe.« Ihr Blick mustert mich aber so scharf, als wäre ich doch ein Einbrecher. »Was machst du hier eigentlich? Du hast doch heute deinen freien Tag und unsere Schränke musst du nun wirklich nicht aufräumen. Oder suchst du etwas Bestimmtes?«
Klartext habe ich mir vorgenommen, also los, du Feigling. »Ja, ich … also … ich habe hier im Sideboard vor ein paar Tagen eine Mappe mit Zeitungsartikeln gesehen.«
Anjas müde Augen weiten sich vor Überraschung. »Was denn für Artikel? Was für eine Mappe?«
Toll, von wegen Klartext. Ich zögere.
»Jetzt sag schon, das interessiert mich auch.«
»Es ging um Stefan.« Los, Blue, bring es hinter dich, es hilft nichts, die Fragen werden nie aufhören, dich zu quälen. Also raus damit. »Und in einem Artikel stand als Schlagzeile Ist dieser Mann ein Mörder.«
»Ach so, das meinst du.« Anjas Schultern entspannen sich. »Ja, der Arme wurde mal der Fahrerflucht verdächtigt, was kompletter Blödsinn war. Aber die Zeitung hat es natürlich nicht für nötig gehalten, das wieder richtigzustellen.«
Sie sieht irgendwie amüsiert aus. »Gibt es noch etwas, das du wissen möchtest?«
Ich komme mir blöd vor und wage es nicht, nach dem toten Kind zu fragen.
»Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass Stefan ein Mörder ist?« Ihre Stimme ist nun lauter geworden. »Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«
Als ich immer noch kein Wort herausbringe, wird sie zusehends aufgebrachter. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich von einem Mörder Kinder haben wollen würde?« Sie verdreht die Augen und schüttelt sich, als wäre ihr kalt. Dann dreht sie sich einfach um und geht. »Als ob ich nicht schon genug durchgemacht hätte«, murmelt sie vor sich hin, als sie die Treppen nach oben steigt – schwerfällig wie eine alte Frau und gleichzeitig sieht sie in dem dünnen weißen T-Shirt so zart und verletzlich wie ein blutjunges Mädchen aus.
Und ich fühle mich unmöglich. Tagelang habe ich mir die schrecklichsten Dinge ausgemalt, mich vor Stefan gefürchtet – und jetzt gibt es so eine harmlose Erklärung für diesen Artikel!
Hastig räume ich die Sachen zurück in den Schrank und gehe in den Keller, steige über meine immer noch nicht ausgepackten Koffer, checke meinen Laptop – nichts, keine Internetverbindung. Wie lange braucht so ein verdammter Router eigentlich, bis er im Odenwald ankommt?
Genervt fange ich an aufzuräumen, um wenigstens irgendwas Konstruktives zu tun. Ich zerre Jeans und Röcke aus den Koffern und hänge sie auf Bügel. Sortiere T-Shirts, BHs und Unterhosen in den Schrank. Als ich den letzten Pack Höschen aus dem Koffer nehme, sehe ich etwas, das vorher ganz sicher noch nicht da war. Auf dem Boden meines Koffers liegt eine der Mappen, die ich im Sideboard entdeckt habe.
Einfach so.
Schwarz, mit ausgebleichten Satinbändern, liegt sie da wie auf dem Präsentierteller. Ich muss schlucken. Starre darauf, als wäre es die Büchse der Pandora, und ich zögere, sie anzufassen, als würden dann alle Übel der Welt daraus hervorquellen. Wie ist die bloß hierhergekommen? Wer hat sie in meinen Koffer getan?
Ich renne zur Zimmertür, schließe sie ab und verrammle die Tür zum Garten. Dann packe ich die Mappe und schließe mich im Badezimmer ein, wo mich niemand beobachten kann.
Zuerst klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um ganz klar zu werden. Dann setze ich mich auf den zugeklappten Klodeckel und lege die Mappe auf meine Knie.
Ich schlage sie auf und hole tief Luft, ehe ich zu lesen beginne. Fahrerflucht, hat Anja gesagt, es ging um Fahrerflucht …
Ganz oben liegt der Artikel, der mich während der letzten Tage so verfolgt hat. Wieder springt mir als Erstes die rot unterstrichene Schlagzeile ins Auge: Ist dieser Mann ein Mörder? Mein Blick bleibt für einen kurzen Moment
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