Liebesfluch
an Stefans Foto kleben, dann überfliege ich die Absätze und kann kaum glauben, was ich da lese. Es ist einfach nur grauenhaft!
In dem Artikel wird berichtet, dass Anjas und Stefans Sohn entführt wurde! Aber, so behauptet der Artikel weiter, für diese These der Eltern gäbe es nicht die geringsten Hinweise. Es läge weder ein Bekennerschreiben noch eine Lösegeldforderung vor. Die Polizei stehe vor einem Rätsel, denn das Ganze soll sich mittags mitten in Schwabing abgespielt haben.
Mir wird übel. Als ich am Ende des Artikels angelangt bin, sehe ich, dass er auf einer anderen Seite der Zeitung fortgesetzt wird. Mit pochendem Herzen blättere ich zur nächsten Seite vor, die in der Mappe liegt, und sehe das verblasste Bild eines hübschen Babys. Ich muss meine Augen zwingen, zu dem Artikel zurückzukehren.
Gierig sauge ich jedes Wort auf, versuche jede Information zu speichern, die ich gerade lese. Als ich am Ende des Artikels angelangt bin, halte ich einen Moment inne. Das kleine Baby, das auf dem Foto oben in der Wohnung zu sehen war, hieß also Jan. Und irgendjemand hat es entführt …
Ich verstehe zwar, was ich da lese, aber irgendwie dringt es nicht richtig zu mir vor. Also beginne ich noch mal von vorne. Diesmal möchte ich sichergehen, dass ich auch wirklich alles richtig verstanden habe.
Ja, in dem Artikel geht es tatsächlich um Stefan und Anja, aber sie hießen damals Weigand. Zeltner ist Anjas Mädchenname. Wahrscheinlich haben sie den angenommen, nachdem ihnen diese furchtbare Geschichte passiert war. Diese Zeit muss der reinste Horror gewesen sein – aber warum hat Anja mich vorhin angelogen? Von wegen Fahrerflucht!
Doch obwohl ich nun weiß, was damals wirklich passiert ist, wirft dieser Artikel mehr Fragen auf als er beantwortet.
Was ist damals nur passiert?
Mit zitternden Fingern lege ich die beiden Seiten auf den kalten Fliesenboden und lese den nächsten Artikel. Der ist älter als der aus der BILD, also schon einige Zeit vorher erschienen. In ihm wird die Entführung des neun Monate alten Babys geschildert. Anja war in Schwabing einkaufen gewesen und hatte den Kinderwagen mit Jan draußen vor einem Geschäft stehen lassen. Sie hätte den Wagen nicht mit hineinnehmen dürfen, und weil es an diesem Wintertag so extrem kalt gewesen wäre, habe sie ihr Baby nicht herausnehmen und der eisigen Luft aussetzen wollen. Jan sei erkältet gewesen und sie wäre nur kurz in dem Laden gewesen, um etwas abzuholen.
Ich fühle mich wie betäubt und kann einfach nicht glauben, dass Menschen, die ich kenne, so etwas Schreckliches zugestoßen sein soll. Mechanisch blättere ich weiter durch die Mappe. Es folgen noch einige jüngere Artikel, die etwa ein halbes Jahr später als die anderen beiden erschienen sind. In keinem ist mehr die Rede davon, dass die Eltern mit der Entführung des Kindes etwas zu tun haben könnten. In einem Artikel ist ein Interview mit dem leitenden Ermittler abgedruckt, der ganz klar sagt, dass die Chance, ein entführtes Kind lebend wiederzufinden, mit jeder Stunde, die verstreiche, sinke und man daher davon ausgehen müsse, dass der kleine Jan tot sei. Er appellierte an die Entführer, einen Hinweis zu geben, wo man nach der Leiche suchen könne, um dem Leiden der Eltern ein Ende zu bereiten.
Ich lese noch einen weiteren Artikel, der einfach nur widerlich ist, weil er vor Pseudomitgefühl nur so trieft. Und doch enthält er eine Information, die zum ersten Mal auftaucht. Der Journalist schreibt, dass Stefan und Anja schon einmal ein Baby verloren haben, weil es am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Zwei tote Kinder …
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Mein Gott, was muss Anja durchgemacht haben. Kein Wunder, dass sie wegen der Zwillinge so extrem überbesorgt ist! Es war sicher grauenhaft für sie. Ich versuche, mir vorzustellen, wie es ist, als Mutter sein Kind zu verlieren. Da wächst so ein Winzling neun Monate in einem heran, und wenn das Baby dann da ist, lacht es einen an, strampelt mit seinen Speckbeinchen und betrachtet einen mit diesen Kulleraugen – und plötzlich ist es weg.
Langsam kann ich verstehen, warum Anja mir nicht die Wahrheit gesagt hat. Irgendwann muss man wahrscheinlich mit der Vergangenheit abschließen, muss alles vergessen, verdrängen, weit von sich schieben, um weiterleben zu können.
Mir wird übel und ich habe das Gefühl, aus diesem engen Bad rauszumüssen. Ich gehe in mein Zimmer und setze mich auf mein Bett. Die Mappe halte ich
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