Liebesfluch
dabei immer noch in meinen Händen.
Was sind das bloß für Menschen, die Kinder entführen?
Einerseits bin ich unendlich erleichtert, dass ich jetzt Bescheid weiß, andererseits macht es mich wahnsinnig traurig. Außerdem habe ich immer noch ein mulmiges Gefühl, denn ich frage mich, wer mir diese Mappe in den Koffer gelegt hat.
Es gibt nur eine Antwort.
Stefan.
Und obwohl es niemand anderes gewesen sein kann, verstehe ich nicht, warum er das gemacht hat. Er hätte es mir ja auch erzählen können! Oder war es das, was er mir im Auto eigentlich hatte sagen wollen, es dann aber doch nicht übers Herz gebracht hat?
Ich sehe mir noch einmal das Bild von dem Kind an. Je länger ich meinen Blick darauf konzentriere, desto stärker löst sich das Foto in kleine Punkte auf, die vor meinen Augen hin und her tanzen. Ist es wirklich das gleiche Kind wie das in dem Rahmen mit der Trauerschleife? Es ist schon ganz schön vergilbt und viel zu grobkörnig, um das mit Bestimmtheit sagen zu können.
Ich starre auf die Artikel und frage mich, was ich jetzt machen soll. Wollte Stefan einfach nur, dass ich Bescheid weiß, oder erwartet er von mir irgendeine Reaktion? Am liebsten würde ich mit Grannie oder Vicky darüber reden. Jetzt sofort. Also checke ich noch mal die Internetverbindung, aber sie ist und bleibt tot.
Ich könnte mit der Mappe auch nach oben gehen und Anja sagen, dass ich nun alles weiß und die Zwillinge hüten werde wie meinen Augapfel. Das wird das Beste sein und dann ist auch endlich Schluss mit all der Geheimniskrämerei, denke ich mir, doch im nächsten Moment frage ich mich, ob das wirklich so eine gute Idee ist. Anja sah vorhin so schwach aus; die letzten Tage waren einfach zu viel für sie. Außerdem muss sie vielleicht damit leben, dass Benni und Mia diese Stoffwechselkrankheit haben.
Ich schließe die Mappe und lege sie auf meinen Schreibtisch. Dabei fällt mein Blick durchs Fenster in den Garten, wo Stefan trotz Anjas Protest ein blaues Planschbecken aufgepumpt hat. Ich öffne die Tür, um warme Luft hereinzulassen, und bleibe einen Moment draußen stehen.
Die warmen Sonnenstrahlen tun gut. Ich schließe die Augen und atme tief die würzige Sommerluft ein. All die merkwürdigen Dinge, die ich während der letzten Tage gespürt habe, hängen bestimmt mit der Vergangenheit zusammen. Ich glaube zwar nicht, dass die Geister der toten Kinder durchs Haus schweben, so wie man es manchmal in schlechten Filmen sieht. Aber ich bin mir sicher, dass Stefan und Anja sie in Gedanken immer mit sich tragen und dass ich eben das gespürt habe. Und wenn ich auch nicht weiß, wie so etwas möglich sein soll, glaube ich doch, dass sich damit auch die schrecklichen Tarotkarten erklären lassen, die Grannie gezogen hat.
Ich gehe zurück in mein Zimmer, ziehe die Tür ein Stück zu und setze mich an den Schreibtisch. Ich fühle mich, als wäre eine schwere Last von mir abgefallen. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, was mit Georg passiert ist und was Grannie damit zu tun hat.
Ein Schatten verdunkelt meine Fensterfront. Erschrocken sehe ich hoch und springe von meinem Stuhl auf.
13.
Und diese Lügen, sein Sexleben betreffend, haben mich dann darin bestätigt, dass ich für uns doch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Allerdings musst du wissen, dass ich trotzdem immer wieder von starken Schuldgefühlen gequält wurde.
Es ist Ju.
Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder ärgern soll. Sein Auftritt neulich hat mich ziemlich verwirrt. Er ist mir auf alle Fälle eine Erklärung schuldig! Ich bin gespannt, was er hier will – und warum klingelt er nicht einfach an der Tür?
Ju grinst mich an, als wären wir alte Freunde. Weil er kurze Shorts trägt, sehe ich, dass sein Knie noch immer bandagiert ist, und nur diese Tatsache verhindert, dass ich ihm die Tür vor der Nase zuschlage. Ich bin besonders deshalb wütend auf ihn, weil er es geschafft hat, trotz seines miesen Verhaltens während der letzten Tage in meinen Gedanken herumzuspuken.
»Darf ich reinkommen?«, fragt er leise durch den Türspalt.
»Nach deinem Abgang letztes Mal habe ich nicht die geringste Lust, mit dir zu reden«, sage ich und hoffe doch, dass er bleibt. Aber er soll ruhig wissen, dass ich sauer auf ihn bin.
»Genau deshalb bin ich hier. Ich wollte mich endlich bei dir entschuldigen. Das war wirklich dumm von mir. Aber als ich neulich hörte, dass jemand kommt, habe ich gedacht, dass du in Schwierigkeiten geraten könntest, und nur
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