Liebesfluch
gehört zu deinen Wurzeln und es ist wichtig, sie zu kennen. Aber wenn du dein Leben immer nur damit verbringen würdest, wieder eine Wurzel zu werden, dann könntest du ja niemals wachsen und Früchte tragen.«
Damit hat sie das Gespräch beendet. Es war das einzige Mal, dass sie wirklich mit mir über ihre Vergangenheit im Hinblick auf Georg gesprochen hat. Und es war der Tag, an dem sie mir das Armband gegeben hat, das Georg ihr damals geschenkt hatte. Er hatte ihr zu dem Armband seiner Mutter einige neue Anhänger gekauft, von denen er dachte, dass Grannie sie mögen würde. Schon als kleines Mädchen wollte ich das Armband gerne haben, aber Grannie hat mir immer nur Geschichten zu den Anhängern erzählt und versprochen, ich würde es dann bekommen, wenn ich so weit wäre.
Nun weiß ich, dass das Armband ein Geschenk von Georgs Mutter war – und dass seine Schwestern es gerne gehabt hätten. Hat deshalb Felix’ Oma gesagt, es würde Blut daran kleben? Oder steckt noch etwas ganz anderes dahinter? Ich nehme das Armband, humple ins Bad und schrubbe es sauber.
Auf alle Fälle hat Felix recht. Georg redet von einem Schatz, den er versteckt hat. Aber offensichtlich klebt auch an diesem Schatz Blut, denn Georg wollte ja nichts davon haben, jedenfalls nicht für sich. Ich muss unbedingt mit Felix reden, mich entschuldigen für mein Verhalten gestern Abend. Und dann müssen wir uns zusammensetzen und herausbekommen, wo Georg und wo dieser ominöse Schatz sein könnte.
Ich pfeife auf alles, was Vicky in Paris erlebt, wenn ich dieses Familiengeheimnis lüften kann! Ich lese den Brief noch einmal und frage mich, ob wir je herausfinden werden, was mit Georg passiert ist – oder ob wir es schaffen, diesen Schatz zu finden. Georg gibt nicht gerade besonders viele Hinweise darauf, wo er die Sachen verstecken wollte.
Es dämmert, die Vögel fangen an zu zwitschern und meine Bauchkrämpfe lassen endlich nach.
Ich schreibe eine ewig lange Mail an Vicky, in der ich ihr erzähle, dass ich schon zwei böse coole Typen kennengelernt habe, die ganz wild darauf sind, mit mir auszugehen, und ich demnächst vielleicht auch noch ein Geheimnis lüften und einen alten Familienschatz finden werde. Mom und Grannie schreibe ich auch, aber ich verrate ihnen nicht, dass Felix und ich Georgs Visum, seinen Pass und diesen Brief gefunden haben. Dann lese ich Georgs Brief ein weiteres Mal, kann mir aber noch immer keinen Reim darauf machen. Ich lege ihn zur Seite.
Geheimnisse und Lügen.
Der Gedanke bringt mich zu Ju und Münchhausen, dem Lügenbaron. Dann wollen wir doch mal sehen, ob Ju die Wahrheit gesagt hat. Leider weiß ich nicht mehr genau, wie der Begriff lautete, den er für Anjas angebliche Krankheit verwendet hatte.
Ich versuche es mit »Münchhausenkrankheit« bei Wikipedia. Dazu gibt es keinen Eintrag, aber ich stoße auf einen Link zum »Münchhausen-Syndrom« – das es scheinbar wirklich gibt. In dem Artikel steht, dass die Patienten, die unter diesem Syndrom leiden, sich Krankheiten ausdenken und auch Operationen in Kauf nehmen, nur um medizinische Zuwendung zu bekommen. Manche fügen sich sogar selbst Verletzungen oder Vergiftungen zu, um eine Krankheit glaubhaft vortäuschen zu können.
Wenn ich es nicht schwarz auf weiß vor mir sehen würde, hätte ich niemals geglaubt, dass es so etwas Ungeheuerliches tatsächlich gibt!
Dann lese ich weiter, dass viele Leute, die unter diesem Syndrom leiden, oft schwerwiegende Untersuchungen und Eingriffe fordern, die das vorgetäuschte Krankheitsbild verschlimmern oder sogar erst hervorrufen können. Das Schlimmste aber ist, dass die Patienten meistens sofort den Arzt wechseln, sobald der die Möglichkeit einer psychischen Erkrankung anspricht. Deshalb ist die Prognose für die Betroffenen eher schlecht.
Ein Stück weiter unten auf der Seite entdecke ich schließlich das, wovon Ju gestern Nacht gesprochen hat – das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Okay, wir haben in der Schule gelernt, dass nicht alles, was bei Wikipedia steht, auch hundertprozentig korrekt ist, aber immerhin scheint es diese Krankheiten wirklich zu geben. Als ich anfange zu lesen, was unter diesem Stichwort steht, fängt mein Bauch wieder an zu grummeln.
Bei diesem Syndrom täuscht der Erkrankte bei einem anderen Menschen Krankheiten vor – es sind meistens Mütter, die das bei den eigenen Kindern tun. Manchmal provozieren sie die Krankheiten auch tatsächlich, indem sie heimlich Medikamente oder
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