Liebesfluch
pflanzliche Stoffe verabreichen, nur um dann einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen zu können und dort intensiv betreut zu werden.
Das Ganze erscheint mir so wahnsinnig, dass ich es mir kaum vorstellen kann. Wie im Fieber lese ich weiter.
Unter Umständen kann diese sehr schlecht beweisbare Art der Kindesmisshandlung auch bis zum Tod des Opfers führen.
Mir wird schwindelig. Das ist es, wovon Ju gesprochen hat!
Als Nächstes geht es darum, wie man erkennen kann, ob es sich bei jemandem tatsächlich um das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom handelt. Ein untrügliches Merkmal ist, dass die Mutter das Kind immer wieder zu medizinischen Untersuchungen und Behandlungen bringt. Die Krankheiten des Kindes werden vorgetäuscht oder künstlich erzeugt und die Beschwerden nehmen deutlich ab, wenn die Mutter vom Kind getrennt wird.
Es stimmt zwar, dass Anja die Kinder wirklich oft zum Arzt bringt, und als Bennie und Mia mit mir alleine waren, kamen sie mir putzmunter vor – aber trotzdem glaube ich nicht, dass das, was da im Internet steht, auf Anja zutrifft. Ich meine, Anjas Verhalten ist doch vor dem Hintergrund ihrer Geschichte absolut verständlich und hat sicher nichts mit dieser Krankheit zu tun. Sie ist einfach nur besorgt!
Dieser Gedanke beruhigt mich ein bisschen, und als ich dann weiterlese, bin ich sicher, dass Ju derjenige ist, der nicht ganz richtig tickt!
Manche Mütter, steht in dem Artikel, würden ihre Opfer sogar bewusst vergiften oder ihnen Medikamente verabreichen, um bestimmte Symptome hervorzurufen.
Das ist einfach nur krank! Wie kommt Ju bloß auf diese abstruse Idee, dass Anja unter diesem Syndrom leiden könnte? Sie ist so süß zu den Kleinen, so liebevoll und besorgt.
Aber warum sollte Ju sich so was Ungeheuerliches ausdenken, wenn nichts davon wahr ist?, rumort es in mir. Ich könnte mir allerhöchstens vorstellen, dass bei einer schmutzigen Scheidung wie der meiner Eltern so etwas behauptet wird, um an das Sorgerecht für ein Kind zu kommen. Doch Ju hat mit den Zeltners nicht das Geringste zu tun – oder weiß ich das nur nicht? Immerhin war er gestern Abend sogar bereit, die Kinder zu entführen, um sie zu schützen.
Plötzlich kommt mir noch ein Gedanke. Was, wenn er die Kinder einfach nur entführen wollte, um Geld zu erpressen? Und als er gemerkt hat, dass ich mit dem Auto schneller bin, hat er mir diese absurde Geschichte aufgetischt, um zu verhindern, dass ich die Polizei rufe. Außerdem hat er mich wieder mal belogen, als es darum ging, warum er sich so für Bennie und Mia interessiert. Er hat gestern behauptet, er würde in einer Kinderklinik arbeiten. Neulich aber, als ich sein Knie verarztet habe, hat er gesagt, er wäre Rettungssanitäter. Das sind doch zwei verschiedene Dinge, oder?
Mein Hirn fühlt sich an wie Wackelpudding, der in einer Zentrifuge hin und her geschleudert wird. Münchhausen. Lügen. Georg. Ein Schatz …
Ich muss raus hier, an die frische Luft.
Vorsichtig versuche ich, meinen Fuß zu belasten – zum Glück sieht er nicht mehr so dick aus wie gestern Abend. Mein Knöchel tut zwar immer noch weh, aber die Schmerzen sind nicht mehr ganz so schlimm und schließlich stehe ich ganz auf.
Ich humple zur Tür zum Garten und öffne sie. Es hat über Nacht kaum abgekühlt, warm und klebrig strömt mir die Luft entgegen und bringt den Duft nach Blumen und Rasen mit. Ich gehe ein paar Schritte nach draußen, atme tief ein und genieße das nasse Gras unter meinen Füßen. Tautropfen glitzern in der Sonne, die sich gerade wie ein orangefarbener Ball hoch an den Himmel schiebt. Die Vögel begrüßen laut zwitschernd den neuen Tag, als gäbe es nichts anderes, nichts Wichtigeres. Es ist fast, als hätte es den gestrigen Tag nie gegeben, als wäre der letzte Abend nur ein böser Traum, Münchhausen nur ein Hirngespinst.
Da fällt mein Blick auf ein kleines Paket, das seitlich von der Tür auf dem Boden liegt. »Für Blue« steht obendrauf. Ich bücke mich, um es aufzuheben, und schüttle ein paar verirrte Ameisen von dem Päckchen, dann gehe ich wieder hinein, um es am Schreibtisch auszupacken.
Unwillkürlich schaue ich zu Grannies Armband – ich möchte keine Überraschungen mehr. Doch als ich dann sehe, was in dem Päckchen ist, bin ich enttäuscht. Es ist ein iPhone und ein Ladekabel. Ich hebe beides auf und schalte das Handy ein. Es ist, wie Ju versprochen hat, betriebsbereit und seine Nummer ist gespeichert. Und er hat eine Nachricht darauf
Weitere Kostenlose Bücher