Liebesfluch
einer alleinerziehenden Krankenschwester bin. Aber dann hat meine …«, er stockt, »… meine Mutter einen tödlichen Herzinfarkt gehabt und ich bekam einen Brief vom Rechtsanwalt. Gleichzeitig habe ich in der Wohnung diese Zeitungsartikel in ihren Unterlagen gefunden. Es war entsetzlich.« Jus Blick ist in weite Ferne gerichtet und er scheint Bennie, der in seinem Arm eingeschlafen ist, völlig vergessen zu haben. »Ich meine, ihr plötzlicher Tod hat mich schon völlig aus der Bahn geworfen – außer ihr hatte ich ja niemanden. Aber dann auch noch all das andere herauszufinden … Es hat sich angefühlt, als würde mir nicht nur der Boden unter den Füßen weggezogen, sondern auch das Herz herausgerissen.«
Er atmet tief durch, dann schiebt er Bennie vorsichtig ein Stück beiseite, um ein paar vollkommen zerschlissene Blätter aus seiner Hosentasche zu ziehen. Einen Moment lang starrt er unschlüssig auf die Seiten, ehe er sie mir herüberreicht.
Mia ist inzwischen auch eingeschlafen, sodass ich sie mit einer Hand festhalten kann. Will Ju tatsächlich, dass ich den Brief seiner toten Mutter lese? Ich werfe ihm vorsichtshalber noch einmal einen fragenden Blick zu, doch als er mir auffordernd zunickt, beginne ich zu lesen:
Mein Liebling,
es fällt mir außerordentlich schwer, dir diesen Brief zu schreiben. Und ich werde dafür sorgen – auch wenn es unheimlich feige ist –, dass du ihn erst dann lesen wirst, wenn ich bereits tot bin.
Du weißt, dass ich dich immer mehr geliebt habe als mein Leben, du warst für mich das Wasser, das Licht und die Luft zum Atmen. Bitte vergiss das nie, niemals und versuche, mir zu verzeihen.
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Mir selbst kommt es heute – nach so vielen Jahren und mit Abstand – einfach ungeheuerlich vor, was ich getan habe. Und doch habe ich es nur für dich getan.
Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Als es mir gelang, deine Aufmerksamkeit zu erregen, und du deine braunen Augen voll auf mich gerichtet hattest, da wusste ich tief in meinem Herzen, dass wir zusammengehören. Für immer.
Doch dein Leben war in Gefahr. Es gab nur einen Weg, dich zu retten, aber dieser Weg war so jenseits des Gesetzes, so jenseits von all dem, was ich für gut und richtig hielt, dass ich zunächst zögerte.
Und aufgrund meines lächerlichen Zögerns wärst du beinahe gestorben. Bitte mach dir das immer wieder klar, wenn du weiterliest. Es war dein Leben, das ich schützen wollte, schützen musste.
Und deshalb habe ich diesen Plan ersonnen, von dem es kein Zurück mehr gab. Du merkst schon, wie schwer es mir fällt, endlich zu den nackten Tatsachen zu kommen. Verzeih mir bitte.
Du weißt, dass ich nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens bekommen habe. Vielleicht hast du gedacht, das wäre so, weil ich entsetzlich spießig bin, aber dafür gab es ganz andere Gründe.
Ich durfte nicht auffallen, nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Konnte nicht riskieren, dass man uns auf die Schliche kommt. Auch nicht, nachdem sie das Ungeheuerliche getan hatte.
Ungeheuerlich, denn sie hat sich damit abgefunden, dass du tot bist. Nicht einmal davor ist sie zurückgeschreckt. Nur um ihrer krankhaften Gier nach Aufmerksamkeit zu frönen. Und trotzdem war genau das der Moment, wo mir klar wurde, wie falsch mein Handeln gewesen war.
Es gab da jemanden, den ich vollkommen ausgeblendet hatte, und das ist das schlimmste Unrecht, das ich begangen habe – neben dem, was ich dir angetan habe.
Als er des Mordes verdächtigt wurde, war ich kurz davor, alles zu gestehen, denn ich konnte doch keinen Unschuldigen im Gefängnis schmoren lassen. Aber zum Glück hat die Polizei relativ schnell gemerkt, dass seine Lügen anderer Natur waren.
Und diese Lügen, sein Sexleben betreffend, haben mich dann darin bestätigt, dass ich für uns doch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Allerdings musst du wissen, dass ich trotzdem immer wieder von starken Schuldgefühlen gequält wurde.
Auch weil du nach meinem Tod ganz allein in der Welt stehen wirst. Immerhin wird dich dieser Brief in die Lage versetzen, selbst nachzuforschen und dir eine eigene Meinung zu bilden. Glücklicherweise bist du nicht dumm.
Und ich hoffe deshalb, dass du mir vergeben kannst, dass ich dich als kleines Baby entführt habe. Du weißt, ich war Kinderkrankenschwester auf der Intensivstation, damals in München.
Schon kurz nach deiner Geburt warst du Dauergast auf unserer Station. Zunächst haben wir alle
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