Liebesfluch
»Die Spritze, wo ist denn die Spritze geblieben?«
Natürlich, er hat recht! Ich glaube, Anja hatte sie nicht dabei, als sie aus dem Zimmer gegangen ist. Aber sicher bin ich nicht. »Sie müsste noch irgendwo im Kinderzimmer …«
Ju zögert keinen Augenblick, sondern rennt sofort nach oben. Anja stellt das Glas ab, springt auf, wirft dabei fast den Tisch um und stürmt hinterher.
Stefan, der immer noch Mia auf dem Schoß hat, schaut mich an und sieht entsetzlich traurig aus. Die Falten in seinem Gesicht wirken wie tief eingegraben. Er versucht, seine Tochter anzulächeln, aber seine Mundwinkel heben sich kaum. Er wirkt vollkommen kraftlos und apathisch.
Und da fällt mir noch etwas ein. »Der Grießbrei«, erkläre ich ihm. »Anja hat heute Morgen weißes Pulver unter den Grießbrei gemischt. Ich habe den Müllbeutel aus der Tonne gerettet, damit er analysiert werden kann.«
Fassungslos starrt Stefan mich an und ich verstumme. Er wirkt nicht so, als würde er mir nicht glauben. Vielmehr sieht er aus, als wüsste er, dass ich hier keine Lügengeschichten erzähle, sondern die bittere Wahrheit. Er tut mir plötzlich nur noch leid, wie er dasitzt und Mia sanft auf seinem Schoß wiegt. Schließlich murmle ich noch: »Na ja, wir werden ja sehen, ob sich etwas darin findet, das nicht in den Brei hineingehört.«
Stefan steht mit Mia auf und es wirkt, als müsse er eine tonnenschwere Last tragen. Er setzt sich mit der Kleinen neben Bennie auf die Decke. Von oben hört man Gerangel und Keuchen und Poltern.
»Ich hab sie!«, ruft Ju nach unten. »Sie ist da und ich hab sie.«
Ich werfe Stefan einen Blick zu. Er sieht aus wie jemand, dem man gerade sein Todesurteil verlesen hat.
Ju kommt triumphierend mit der Spritze angerannt, Anja ist ihm dicht auf den Fersen.
Anja starrt kopfschüttelnd auf die Spritze. »Ich weiß nicht, wo der Junge die Spritze hergezaubert hat, von mir ist sie jedenfalls nicht. Sicherlich hat Blue …«
Erschrocken hält Anja inne, als Stefan plötzlich aufspringt, mir Mia in den Arm drückt und dann sagt: »Anja, es reicht! Es ist vorbei.«
Stefan schreit nicht, er fasst Anja nicht an, doch sie zuckt zusammen, als hätte er ihr einen Schlag versetzt. Seine Stimme ist laut und klar und bestimmt. So habe ich Stefan noch nie erlebt; immer war er derjenige, der vor Anja klein beigegeben hat.
Anja setzt erneut zu sprechen an: »Stefan, ich weiß wirklich nicht, was hier eigentlich …«, doch Stefan lässt sie gar nicht ausreden.
»Du bist krank, Anja. Krank!« Nun flüstert er beinahe. »Du musst in eine Klinik, du brauchst Hilfe.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst?«, begehrt sie empört auf.
Stefan dreht sich von ihr weg, reibt mit seinen Händen über sein Gesicht und sagt dann: »Doch, Anja, doch. Es gibt keinen anderen Weg.«
Und dann geschieht alles ganz schnell: Anja steht auf, geht zur Anrichte und trinkt von der Schorle, sie verdreht die Augen, das Glas rutscht ihr aus der Hand, fällt auf den Boden, zerbricht, der Rest Holunderschorle verteilt sich überall im Zimmer.
Anja zittert am ganzen Körper, geht ein paar Schritte, wird sehr blass, zeigt mit dem Finger auf mich und stammelt hasserfüllt: »Du! Du!«, bevor sie bewusstlos auf dem Teppich neben dem Esstisch zusammenbricht.
Stefan steht auf. Er wirkt ganz ruhig. »Anja wird öfter mal ohnmächtig, wenn sie sich nicht durchsetzen kann. Aber wir sollten besser einen Krankenwagen rufen, schon wegen Bennie. Wer weiß, was Anja ihm heute Nachmittag …« Er verstummt und wirft einen Blick auf seine Frau, die leichenblass auf dem Boden liegt und sich nicht rührt. Schließlich nimmt er mir Mia ab, bückt sich nach Bennie und sagt, dass er die Kinder ins Bett bringen und oben mit dem Arzt telefonieren würde.
Ju starrt Stefan hinterher, als der nach oben geht. Er sieht aus, als würde er Stefan zum ersten Mal sehen.
25.
Und ich schwöre dir, als sie herauskam, hat sie nicht einmal nach dir geschaut. Das war gut für uns, denn so hat sie erst später bemerkt, dass du weg bist. Und dann hat sie sich wie ein Profi in ihre Rolle als leidende Mutter gestürzt.
Nachdem Stefan verschwunden ist, fällt Jus Blick auf die wie tot daliegende Anja. Er stöhnt und kniet sich neben sie, lagert ihre Beine hoch, fühlt ihren Puls und schaut dabei auf seine Armbanduhr – konzentriert und so fachmännisch, dass ich plötzlich ganz sicher bin, er arbeitet wirklich als Sanitäter. »Der Puls ist kräftig und gleichmäßig«, flüstert er
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