Liebesgruesse aus Deutschland
behandelt. Nietzsche hielt Langeweile für das Einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet, und auch Goethes Faust beschwert
sich ständig, wie langweilig ihm sei. »Ich langweile mich so, Mephisto!«, sagt er immer wieder. Aber hätte er sich auch gelangweilt, wenn er einen HD-Fernseher mit drei Dutzend Kung-Fu-Filmen gehabt hätte? Wahrscheinlich nicht. Ihm wäre einiges erspart geblieben. Außerdem hätte er jeden Augenblick mithilfe einer Fernbedienung festhalten können, solange er gewollt hätte, und seine Seele hätte er dabei auch behalten.
Die Singapuraner sind keine Langweiler, deswegen bevorzugen sie Filme, am liebsten Horrorfilme mit Gewaltelementen in 3D. Von der ganzen deutschen Kultur, die in Singapur präsentiert wird, ist deswegen vor allem das Festival des deutschen Films bei den Einheimischen beliebt. Sogar sehr, denn aus Sicht der Singapuraner bestehen alle deutschen Filme aus Horror mit Gewaltelementen, egal ob sie in ihrer Heimat als soziale Dramen über gescheiterte Integration, als Aufarbeitung der eigenen Geschichte, ja sogar als Komödien gedreht wurden.
Im Jahr meines Besuches sollte der Film Das weiße Band das Festival in Singapur eröffnen, ein Streifen, der viele Preise in Deutschland und Europa bekommen hatte und ohne Ende gelobt wurde. Ich habe den Film nicht gesehen, die Mutter eines der Hauptdarsteller hat mir den Inhalt aber erzählt. Es geht in dem Film wohl darum, dass Kinder in einem Internat kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges gemäß den damals gängigen Erziehungsmethoden ein bisschen geschlagen und gefoltert werden. Absicht des Regisseurs war es herauszufinden, wie ein Mensch zum Nazi wird. Und seine These lautete: Die mit Folter erzogenen
Kinder wollen sich früher oder später rächen und zurückschlagen.
Der Regisseur mag sogar recht haben, doch diese ganze Gedankenspielerei interessierte die Singapuraner nicht. Sie wollten einfach bloß zugucken, wie blonde weiße Kinder in perversen Kostümen von Erwachsenen gefoltert und gepeinigt wurden. Sie hatten ihre eigene Theorie dazu. Sie dachten, es gibt eben Menschen, die Katzen oder Hunde nicht leiden können. Und es gibt Menschen, die können keine Kinder leiden. Diese Menschen arbeiten in Deutschland gerne in Schulen, um die Kids dort zu foltern und dadurch ihre Leidenschaft zu stillen.
Zur Premiere reisten die Hauptdarsteller aus Berlin an: ein Mädchen und ein Junge mit seiner Mutter, die zwar im Film nicht mitgespielt hatte, aber ihren Sohn gerne auf seiner Promotiontour begleitete. Der Junge hatte viel Freizeit in Singapur, denn der Film war auch dort als »ab achtzehn« eingestuft worden, und der Hauptdarsteller war erst vierzehn, durfte den Film also nicht sehen. Das hat den Jungen aber nicht traurig gemacht, ich glaube, er hat sich sogar darüber gefreut. Er hatte den Film bereits fünf Mal gesehen und überhaupt keine Lust auf eine weitere Vorführung gehabt. »Ich gehe lieber an den Strand«, sagte er. Das Mädchen aus dem Film war in ihrem Realleben inzwischen achtzehn Jahre alt geworden, aber noch nicht einundzwanzig. So befürchtete sie, zwar ins Kino zu dürfen, aber nachher nicht in die Bar eingelassen zu werden, wo der Erfolg des deutschen Kinos gefeiert werden sollte. Die freundlichen Singapuraner selbst aber freuten sich auf
den Film wie Bolle, ließen alle mitfeiern, servierten bunte Gerichte auf kleinen Untertassen und schenkten aromatische Tees dazu aus.
Zurück in Deutschland schienen mir selbst meine netten Berliner der Gipfel an Unfreundlichkeit zu sein. Sogar »Juten Tach« hörte sich aus ihrem Munde wie eine Drohung an.
In Norddeutschland nieselte es ununterbrochen. In jeder Gaststätte aßen Menschen die dampfende grüne Brühe, und später im Zugabteil wechselte eine Dame ihrem Kind die Windel. Einer anderen Dame wurde dabei richtig schlecht. Wahrscheinlich kann sie keine Kinder leiden.
Sponsorenlauf
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass niemand mehr erwachsen werden will. Die Alten bleiben bis zu ihrem Lebensabend jung, sie laufen nicht gebeugt mit einem Stock durch die Gegend, stattdessen treiben sie Nordic Walking, gehen schwimmen und in die Ü40-Diskos und kaufen sich Klamotten in »Jugend-Mode«-Läden, weil dort die Sachen praktischer und preiswerter als in Senioren-Läden sind. Die jungen Menschen dagegen werden alt geboren. Ihr Spielzeug sind komplizierte technische Geräte mit bibeldicken Gebrauchsanweisungen, sie werden bereits im Kindergarten über ihre Rechte
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