Liebesgruesse aus Deutschland
sagte ich. Sebastian trauerte aus Trotz weiter.
Zwei Wochen später bekamen wir ein Paket aus Singapur. Drin lag Xavier, vakuumverpackt, in Folie eingeschweißt und in eine quadratische Schachtel gepresst. Der Hund war dadurch ebenfalls quadratisch geworden und besaß nur noch ein Auge, das uns aus der Schachtel irgendwie vorwurfsvoll anschaute. Als wolle er sagen, dass es sich manchmal eben doch lohne, zu trauern und zu hoffen.
Kinder leiden
Wenn es Ende November lange genug kräftig regnet, verwandelt sich die norddeutsche Ebene in eine grenzenlose, dampfende grüne Brühe. Hier und da liegen niedliche Kühe wie Würstchen im Matsch und rülpsen faul vor sich hin. Passend zu diesem Bild hängt vor jeder Gaststätte ein Schild »Die Grünkohlzeit ist angebrochen«. Erwachsene Menschen sitzen vor großen Portionen grüner Brühe mit Würstchen und lächeln milde in die Teller, sie erkennen in ihnen ihre Heimat.
Ich fuhr mit dem Zug durch Norddeutschland und dachte an Singapur. Die Wege eines Lesereisenden sind unergründlich, und so kam es, dass ich innerhalb einer Woche zuerst im fernen Asien und gleich danach im nahen Kronshagen bei Kiel Lesungen hatte. In Singapur leben Menschen so vieler Nationen, dass sie selbst inzwischen nicht mehr so recht wissen, wer zu welcher Nation gehört. Jeder dort denkt, er würde Englisch sprechen, nur ist es eben seine eigene Variante davon, die nicht einmal der Sprechende selbst versteht, von seinem Gegenüber ganz zu schweigen. Der kann nur ahnen, was gemeint ist. Doch das Leben in Singapur ist dermaßen klar strukturiert,
dass es keine Mühe macht, die Leute dort zu verstehen.
Ich hatte drei Lesungen in Singapur, die gut besucht wurden. Hauptsächlich waren Studenten der dortigen Universitäten gekommen, die sich entweder ins falsche Auditorium verlaufen hatten oder von ihren Professoren gezwungen worden waren, sich deutsche Literatur anzutun. Das Studium wird dort nicht nach den in Deutschland beliebten Montessori-Prinzipien als abenteuerliche Reise ins Land des Unbekannten organisiert, sondern vielmehr nach den Prinzipien der fernöstlichen Kampfkünste – als Hürdenlauf mit gebundenen Füßen und Händen. Jahr für Jahr werden den Studenten schwere Aufgaben gestellt, deren Schwierigkeitsgrad sich ständig noch steigert. Derjenige, der nicht kneift, bekommt am Ende ein Diplom und die Aussicht auf einen guten Job.
Deutsche Literatur zu studieren, ist in Singapur eine der schwierigsten Aufgaben, eine Art intelligente Folter. So habe ich es jedenfalls zu hören bekommen. Ich weiß, dass man gerade mit solchen Foltermethoden die Menschen am schnellsten in den Wahnsinn treiben kann – wie in dem alten Witz über Stalin und Hitler in der Hölle, wo Stalin von den Teufeln gleich auf eine heiße Pfanne gesetzt wird, während Hitler neben ihm konzentriert in einem Buch blättert. »Was soll das?«, regt sich Stalin auf. »Hat er etwa weniger Blut vergossen, dass nur ich gebraten werde, während Hitler Bücher liest?« »Er liest nicht«, erklärten ihm die Teufel, »er übersetzt Das Kapital ins Hebräische. «
Um das Leben der singapurischen Studenten nicht unnötig zu verkomplizieren, habe ich bei den Lesungen wenig gesprochen. Ich las jeweils nur den ersten Satz einer Erzählung. Der mir zugeteilte Übersetzer, ein südchinesischer Kung-Fu-Schauspieler, las dann aus der englischen Buchfassung den Rest vor. Dabei simulierte er aus Spaß meinen russischen Akzent, der mit seinem südchinesischen Akzent gemischt ganz neue, vorher ungehörte Formen des Englischen hervorbrachte. Ich glaube, die Engländer hätten sich sehr gewundert, wenn sie ihre Sprache aus unserem Munde gehört hätten. Aber es waren keine Engländer im Saal.
Ich hatte großes Glück mit meinem Kung-Fu-Übersetzter. Er war nicht nur in Asien sehr bekannt, sogar in Deutschland hatte mein kleiner Sohn, ein überzeugter Kung-Fu-Kämpfer, bereits mehrere Filme mit ihm gesehen. Beim Vorlesen gestikulierte er heftig, sodass die Veranstaltung halb Vorlesung und halb Kung-Fu-Film war und den Studenten die Aufnahme der deutschen Literatur leichter machte. Überhaupt scheint das Lesen keine singapurische Stärke zu sein, viel lieber gucken die Menschen dort Filme. Wozu lesen, wenn es so viel zu schauen gibt?
Die Literatur, besonders die große deutsche Literatur, ist zu einem beträchtlichen Teil aus Langeweile entstanden. Langweile wurde hierzulande schon immer als äußerst geistreiche Eigenart geschätzt und
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