Liebesgruesse aus Deutschland
Schule? Hast du gute Noten? In welche Klasse gehst du eigentlich?« Der tägliche Schulbesuch ist eine unfreiwillige, aber notwendige Maßnahme, der sich jedes Kind unterziehen muss. Aber zugleich geht mit ihm ein beträchtlicher Verlust der Lebensqualität einher. Gehört es nicht zum schlechten Ton, auf den Schwachpunkten des anderen herumzuhüpfen? Man fragt doch nicht einen Knastbruder, ob er gerne Reisekataloge liest, oder einen Rollstuhlfahrer, ob ihm Sex im Stehen fehlt.
Auf Schulfragen reagieren gut erzogene Kinder mit Schulterzucken, sie lächeln verkrampft, schauen zur Seite und sagen »gut, gut«. Danach wollen sie mit den Älteren über nichts mehr reden. Die sind dann in der Regel beleidigt und denken, die Jungen wären zu doof. Dasselbe denken die Jungen über die Alten. Alter und Jugend sind eben die schwierigsten Lebensphasen, das haben wir in der Familie festgestellt.
Nach der Zeitrechnung meines Sohnes kann man die Menschen grob gesagt in drei Altersphasen einteilen: die Phase, in der man zu jung ist, um die anderen zu verstehen ; die, in der man dafür zu alt ist; und die Phase in der Mitte, kurz Mittelalter genannt. Das Mittelalter muss nicht mehr zur Schule, kann sich aber noch gut an diese Einrichtung erinnern.
Ich gehöre zum Mittelalter. Ich weiß noch genau, wie es auf der Schule war, und ich sehe, dass wir damals noch viel kindischer waren als die heutigen Kinder. In beinahe allen Lebensbereichen sind die Schüler dieses neuen Jahrhunderts uns überlegen. Sie können mit komplizierten technischen Geräten umgehen, ein vielseitiges Dokument schnell und beinahe auswendig lernen, zum Beispiel das wöchentliche Fernsehprogramm. Sie sind immer über die wichtigsten Nachrichten informiert, d.h. sie wissen genau, was nächste Woche in die Kinos kommt und bei welchem Film welche Jugendfreigabe gilt. Durch den ständigen Umgang mit Computersimulationen können die meisten von ihnen bereits im zarten Kindesalter Auto fahren, Flugzeuge steuern und automatische Maschinenpistolen bedienen. Und sie müssen ihren Eltern auch keine komischen Fragen über den Ursprung des Lebens mehr stellen, denn sie haben Sexualkunde. Dort werden sie von Fachpersonal in allen Einzelheiten aufgeklärt, wann was wohin kommt und welche Risiken und Nebenwirkungen dabei zu beachten sind. Dazu werden Filme gezeigt und Hausaufgaben verteilt.
Neulich musste die Tochter unserer Freundin eine solche
Hausarbeit schreiben. Bei der Frage, ob auch ein Kind vor Erreichen der Geschlechtsreife schwanger werden könne, war sich die Tochter unsicher und fragte ihre Mutter um Rat. Die, ebenfalls im Mittelalter, ist zu ihrer Zeit in der sonnigen sozialistischen Republik Aserbaidschan zur Schule gegangen, hatte also keinen Sexualkundeunterricht. Sie überlegte lange und sagte, unter Umständen könne das schon passieren, komme aber selten vor. Ihre Tochter schrieb es auf und bekam eine Sechs. Die Mutter hatte sich in den Augen der Tochter furchtbar blamiert.
Zur Entstehung von Babys hatte meine Generation viele Vermutungen und ausgeklügelte Theorien parat. Einige glaubten, sie würden sich im Körper der Frau nach der Hochzeit entwickeln, ausgelöst durch den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn, der bei jeder Eheschließung auf dem Amt gespielt wurde. Man glaubte, die Entstehung der Kinder sei eine Reaktion des Körpers auf Mendelssohn. Daneben war der Aberglaube weit verbreitet, dass jeder Mensch spätestens mit hundert Jahren sterben müsse. Wir stellten uns das total peinlich vor: Die Gäste kommen zu deinem Geburtstag, der Tisch wird gedeckt, aber der Gastgeber muss ins Grab.
Die Welt unserer Kindheit war eine verkehrte Welt. Die Jungs interessierten sich für die Probleme des Kinderkriegens, die Mädchen dachten über ihre Karriere nach. Sie hatten alle irgendwelche romantische Berufe ins Auge gefasst und trainierten dafür bereits ab der dritten Klasse. Ein Mädchen, das Friseuse werden wollte, verpasste der Katze unseres Schulhausmeisters einen modischen Haarschnitt
und schwärzte ihr sogar die Wimpern. Ihre Freundin, die sich eine Zukunft als Kinderärztin ausmalte, wollte mit uns partout das Spritzengeben üben, und meine Grundschulliebe, die Archäologin werden wollte, vergrub einmal im archäologischen Eifer den ganzen Schmuck ihrer Oma auf dem Hof – und vergaß dann, wo. Daraufhin wurden alle Mitglieder ihrer Familie zu Archäologen. Jeden zweiten Tag gingen sie vollzählig mit Schaufeln bewaffnet auf den Hof und gruben nach
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