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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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glaube, ich habe sie überzeugt und warte nun nur noch auf die Kohle.

Der erste Tadel
    Mein Sohn kam aus der Schule und brach in Tränen aus.
    »Rette mich, Papa, ich will nie wieder in die Schule gehen !«, heulte Sebastian und konnte sich gar nicht beruhigen. Ich merkte, das Kind stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Allein das Wort »Schule« ließ ihn erzittern. Was war passiert?
    Während einer Klassenarbeit in Englisch hatte Sebastian bei seinem Banknachbarn Leo abgeschrieben. Nicht dass er selbst kein Englisch konnte oder große Schwierigkeiten mit dem Text hatte, es war nur so, dass Leo besonders gut in Englisch ist. Er ist beinahe selbst Engländer und wurde schon als Baby von seinen Eltern mit Englisch traktiert. Für Sebastian war es eine intelligente, logische Lösung, sich bei der Erledigung dieser Klassenarbeit auf die Fähigkeiten seines Nachbarn zu verlassen. Leider vergaß mein Sohn die wichtigste Regel beim Abschreiben: Man darf sich nicht erwischen lassen. Die Lehrerin war mehr als empört und hat, glaube ich, auch überreagiert, als sie Sebastian bei seinem aktiven Austausch mit dem Nachbarn erwischte. Sie nahm dem armen Kind seine Arbeit weg, gab ihm eine Sechs und sagte, er brauche nicht
mehr weiterzuschreiben. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, redete sie ihm auch noch ein, alle würden ihn ab sofort wegen seines Abschreibeversuchs hassen und die anderen Lehrer ihn nun verstärkt beobachten. Zu allem Überfluss drohte ihm die Lehrerin, Frau Walzer, auch noch mit einem »Tadel«.
    Sebastian wusste nicht genau, was ein Tadel ist. Er stellte sich ein Folterwerkzeug darunter vor, eine Art Nadel, mit der schlechte Schüler gepikt werden, oder noch gruseliger: ein eisernes Halsband plus Handschellen. Er hatte sogar im Internet nachgeguckt, was ein Tadel ist. Dort stand, ein Tadel sei eine Beeinträchtigung der sozialen Anerkennung, was ihm aber den Begriff auch nicht erklärte und nur für neue Angstschübe sorgte.
    Sebastian wurde aufgefordert, sich öffentlich für sein Vorgehen zu entschuldigen. Von uns als Erziehungsberechtigten wurde eine schriftliche Erklärung erwartet. Alle zusammen bemitleideten wir Sebastian und regten uns über den pädagogischen Eifer der Gymnasiallehrer auf, die in ihrem Erziehungswahn weit über das Ziel hinausschießen. Dabei erwärmte mein Herz die alte, schon völlig vergessene Freude an dem Gedanken, dass meine eigene Schulzeit vor einem Vierteljahrhundert auf natürliche Weise zu Ende gegangen war und ich nie wieder dorthin zurückmusste. Nun lag es an mir, mit einer Erklärung in Reue meinem Sohn zu helfen. Ich hatte jedoch noch nie eine solche Erklärung geschrieben und hätte sie gerne abgeschrieben – nur bei wem? Anders als Sebastian hatte ich dafür keinen Nachbarn, dem ich über die Schulter
schauen konnte. Ich war allein auf meine eigenen Fähigkeiten angewiesen.
    »Sehr geehrte Frau Walzer«, schrieb ich. »Mein Sohn Sebastian hat während der von Ihnen den Schülern aufgegebenen Klassenarbeit im Fach Englisch abgeschrieben. Na und? In gewisser Weise ist unsere Kultur auf ständiges gegenseitiges Abschreiben und Abgucken aufgebaut. Politiker schreiben voneinander ihre politischen Programme ab, Philosophen ihre philosophischen Theorien, und auch Künstler lassen sich voneinander inspirieren. Die gesamte Weltliteratur besteht aus drei Geschichten, die immer wieder neu abgeschrieben werden: Entweder läuft sie ihm weg und er ihr hinterher, oder sie läuft ihm hinterher und er weg. Oder beide laufen einander hinterher. Haben wir das nicht alle einmal gemacht und sind dabei früher oder später auf die Nase gefallen? Wie sonst kann der junge Mensch Erfahrungen sammeln, die für sein späteres Erwachsenenleben überlebenswichtig sind? Ich bin seit etlichen Jahren Vater und weiß daher, dass der Charakter eines Menschen nicht aus fertigen Genen zusammengesetzt wird, sondern aus Erfahrungen entsteht, die der Mensch macht, durch Siege und Niederlagen.
    Sehr geehrte Frau Walzer, ich möchte mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanken, dass Sie meinem Sohn die wichtige Erfahrung vermittelt haben, wie blöd es ist, sich beim Abschreiben erwischen zu lassen. Als Erziehungsberechtigter habe ich stets versucht, meinem Sohn Selbstvertrauen beizubringen, und ihm erklärt, dass man Lehrer nie für dämlich halten soll, auch wenn manche so aussehen.
Das ist nur Tarnung. Leider hat mein Sohn nicht auf mich gehört. Die heranwachsende Generation will ihre

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