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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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sie etwa keine Patienten mehr?«
    »Ja, du hast schon recht«, sagte mein Bekannter, »diese Wahl ist ein bisschen wie Kindergeburtstag mit Gästelisten. Wen lade ich dieses Jahr ein, wen lade ich aus? Die Stadt ist klein, bei mehreren hundert Kandidaten ist es so, dass jeder Bürger mindestens einen Kandidaten persönlich kennt. Zum Beispiel weiß ich, dass meine Nachbarin aus dem dritten Stock kandidiert. Ich wohne im Erdgeschoss. Ihr Dackel hat mir bereits zweimal in die Blumen geschissen, also weiß ich: Die wähle ich schon mal nicht. Die Frau kann nicht einmal mit ihrem eigenen Hund umgehen. Sie mit ihrem Dackel kommt mir auf gar keinen Fall auf den Wahlzettel.«
    »Von welcher Partei ist sie denn?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung, das spielt keine Rolle«, klärte er mich auf. »Die Parteien bedeuten hier nicht viel, es wird nach
Visagen, nach Bekanntschaften und Charaktereigenschaften, nicht nach Parteizugehörigkeit gewählt. Viele Kandidaten kommen von den Bürgerlisten. Parteilosigkeit ist in. Vorletztes Mal hat hier einer von einer solchen Liste gewonnen, und letztes Jahr kam noch ein weiterer in die engere Stichwahl, das hat vielen Mut gemacht, sich als unabhängige Kandidaten aufstellen zu lassen. Auch viele Hausfrauen, die es satthaben, zu Hause zu sitzen, gehen in die Politik, um sich vor der drohenden Bedeutungslosigkeit zu retten. Was sollen sie sonst tun, wenn die Kinder erwachsen und aus dem Haus sind? Ihre Ehemänner gehen vermutlich aus demselben Grund in die Politik, um nicht mit ihren Frauen jeden Abend vor der Glotze zu sitzen. Dann treffen sich beide plötzlich im Stadtrat und machen einander die Hölle heiß mit ›Gerechtigkeit und Transparenz‹«, lächelte mein Freund.
    Wir stießen auf die Stadträte, ihre Frauen, auf Fledermäuse, auf die UNESCO, auf die Gerechtigkeit und die Transparenz an.
    Am nächsten Tag verließ ich Würzburg mit einem leichten Kater in Richtung Thüringen. Der Zug schaukelte hin und her, ich saß am Fenster und beobachtete die herrlich öde winterliche Landschaft. Während der ganzen Strecke bis Schweinfurt konnte man keinen einzigen Baum, kein Haus oder Auto sehen. Nur kahle verschneite Felder mit undefinierbaren Gemüseresten drauf und Winterhasen, die unheimlich schnell und hoch neben den Gleisen hin und her sprangen, überhaupt sehr engagiert und sportlich wirkten. An einer Stelle fuhren wir an einem adlerähnlichen
Vogel vorbei, er saß regungslos mitten im Feld und wartete auf Beute.
    In Meiningen gab es keine Kommunalwahlen. Die an die Häuser und Werbewände geklebten Plakate luden zum »Russischen Zirkus« ein, der gerade in der Stadt gastierte. Die Transparente im Schaufenster des Reisebüros lockten mit »Sonne und Mehr«, und die Speisekarte vor dem Ratskeller versprach eine delikate Schweinesülze zum Valentinstag.

Die Deutschen und die Unordnung
    Stefan Zweig hat in seinem letzten Buch Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers zu den Deutschen angemerkt, sie könnten alles ertragen, Kriegsniederlagen, Armut und Not, aber keine Unordnung. Nicht die Kriegsniederlagen, sondern die Inflation habe sie in die Verzweiflung getrieben und hitlerreif gemacht. Wegen der finanziellen Anarchie waren sie bereit, sich mit jedem Teufel zusammenzutun, der ihnen die Wiederherstellung von Ordnung versprach.
    Seitdem ist viel Zeit vergangen. Aus Deutschland wurde die BRD, ein freies demokratisches Land mit drei Konsonanten: einem meckernden, einem brüllenden und einem schlürfenden. Alles läuft nach Plan, die Angst vor Unordnung bleibt jedoch der wunde Punkt der Nation. Wenn ein Plan mal nicht funktioniert, ein Zug zu spät kommt oder ein Taxi nicht hält und ein Flugzeug nicht rechtzeitig abhebt, bricht sofort die heile Welt zusammen, und alle Sicherungen knallen durch. Intelligente, höfliche Bürger trampeln ihre Kinder nieder, schmeißen mit Koffern um sich und springen auf die Gleise. In jedem Gebäude Deutschlands hängen an der Wand Evakuierungspläne
für den Fall eines Brandes. Das hat einen Grund. Ohne einen solchen Plan wären die Deutschen nicht imstande, ein brennendes Gebäude zu verlassen. Lieber würden sie in Flammen aufgehen, als etwas ohne Plan zu unternehmen. Wenn jemand hier eine Geburtstagsfeier plant, so muss er als Erstes seine Nachbarn davon in Kenntnis setzen, dass es an dem Tag in seiner Wohnung unter Umständen etwas lauter werden könnte. Danach kann er die ganze Nacht durchdonnern, niemand fühlt sich verletzt. Wenn es aber in

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