Liebeskind
weitaus Interessanteres, denn seit jener Unterrichtsstunde in der Schule hatte auch Elsa ihre Leidenschaft für die Musik entdeckt. Stundenlang hockten die beiden nebeneinander auf dem Fußboden des Partykellers und hörten sich Schallplatten an. Manchmal schaltete Torsten das Schwarzlicht an der Decke ein und spielte Elsa etwas auf seiner Gitarre vor. Er hatte angefangen, eigene Lieder zu komponieren, und wenn Elsa dann mitsummte, lobte er sie für ihre schöne Stimme. Torsten ermunterte Elsa, mit dem Singen anzufangen. So richtig professionell, mit Stimmbildung und allem Drum und Dran. Rainer war seit ein paar Monaten eifrig dabei, Schlagzeugspielen zu lernen, vielleicht könnten sie irgendwann sogar eine eigene Band gründen. Wenn Elsa nach diesen Nachmittagen dann wieder zu Hause war und in ihrem Bett lag, träumte sie von gemeinsamen Auftritten mit Torsten. Elsa sah sich schon auf einer Bühne stehen. Sie war begehrenswert und schlank, kein Mal verunstaltete ihr Gesicht. Elsa stellte sich vor, eine Stimme zu haben, die so schön war, dass sie die Menschen zum Träumen brachte. Vielleicht wäre das Lachen dann endlich auch einmal bei ihr.
Bisher war ihre äußere Verwandlung perfekt gewesen, dachte Elsa. Was würde sie für Doreen sein? Einen Abend lang war sie für Rainer zur Prinzessin geworden, für Torsten zur Hure. Und wenn Elsa ihrer früheren Gefährtin diesen gemeinsamen Moment tatsächlich zugestand, könnte Doreen dann vielleicht sogar noch einmal zu ihrer Freundin werden? Was wäre gewesen, wenn sie einander zufällig in der Stadt getroffen hätten? War es möglich, wieder dort anzuknüpfen, wo es vor vielen Jahren auf dem flauschigen Wollteppich in Doreens Zimmer aufgehört hatte? Würde Doreen sie heute so ansehen, wie sie vorhin die aufgetakelte Schnepfe vor dem Kindergarten angesehen hatte? Möglicherweise war es noch nicht zu spät, alles noch einmal an den Anfang zurückzudrehen und abzuwarten, was sich daraus entwickelte. Ja, vielleicht war es doch noch nicht zu spät dafür.
Elsa starrte in die Dunkelheit, als sie auf einmal ein kleines Licht langsam näher kommen sah, das einmal heller,dann wieder dunkler flackerte. Dort hinten musste ein altertümliches Fahrrad auf dem Waldweg sein, ein Fahrrad, dessen Lampe von einem Dynamo angetrieben wurde. So eines, wie Doreen es besaß. Elsa schaltete ihre Taschenlampe aus und überprüfte noch einmal das Nylonseil.
Doreen hielt inne. In der Ferne, kurz bevor der Weg weiter hinten eine leichte Biegung machte, war einige Sekunden lang ein Licht zu sehen gewesen. Doch nun lag der Weg wieder dunkel vor ihr. Hatte sie sich getäuscht? Hatte Doreen aus dem Unbehagen und der Nervosität der letzten Tage heraus etwas gesehen, das gar nicht vorhanden war? Sollte sie wieder einer dieser Tagträume einholen, der mit Elsas wütendem Gesicht und ihren auf sie einschlagenden Fäusten enden würde? Andererseits, wer sollte in dieser Kälte und Dunkelheit schon freiwillig mit dem Fahrrad unterwegs sein? Dennoch glaubte Doreen nicht, dass es schon so schlecht um sie stand, dass sie Gespenster sah. Vielleicht sollte sie doch besser umdrehen und anschließend im „Health care“ anrufen. Aber was sollte sie dann erzählen? Dass Martha plötzlich hohes Fieber bekommen hatte? Niemand würde Doreen ernstlich böse sein, wenn sie eine gute Ausrede parat hatte. Unsinn, sie durfte ihrer Furcht jetzt nicht nachgeben. Sonst würde in Zukunft bereits eine Kleinigkeit genügen, um sie nicht mehr allein aus dem Haus gehen zu lassen. Sie würde zu zittern beginnen, sobald auch nur das Telefon klingelte. Vor einer solchen Angst konnte sie auch ein zum Wachhund ausgebildeter Rottweilerrüde nicht mehr beschützen. Nein, Doreen durfte nicht zulassen, dass irgendeine diffuse Angst ihr Leben beherrschte. Also stieg sie wieder auf ihr Fahrrad und trat entschlossen in die Pedale. Wennsie soeben ein Licht gesehen hatte, dann nur deshalb, weil noch jemand mit seinem Hund unterwegs war. Doreen war auf dem besten Weg, sich lächerlich zu machen. Und das alles nur, weil sie ein schlechtes Gewissen wegen einer Geschichte hatte, die mehr als zwanzig Jahre zurücklag. Ihre ganze Panik war nur auf ein kleines Kleeblatt aus emailliertem Silber zurückzuführen. Doreen würde sich jetzt zusammenreißen und sich nicht länger vor einer Klassenkameradin fürchten, die ihrerseits bestimmt schon lange nicht mehr an Doreen dachte. Zum Teufel mit Elsa.
Nun war das Fahrradlicht wieder verschwunden, und
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