Liebeskind
ihrem Rücken. Aber die fremden Augen waren jedes Mal verschwunden gewesen, sobald Elsa sich umdreht hatte. Wahrscheinlich hatte es diese Blicke niemals gegeben, versuchte sich Elsa zu beruhigen, und ihr Gefühl, beobachtet zu werden, kam nur daher, dass sie selbst seit Tagen nichts anderes tat, als Doreen zu beobachten. Wie wenn man in einem Wald steht und die Bäume in einer Pfütze mit Regenwasser betrachtet. Es wird einem schwindelig davon, dachte Elsa, weil man auf einmal nicht mehr weiß, wo sich der Boden befindet. Weil man, während man in die Pfütze auf die Spiegelung der Bäume starrt, nicht mehr weiß, welches der Bilder real ist und welches der Spiegel. Elsa knipste ihre Taschenlampe an und sah auf ihre Armbanduhr. Nein, sie hatte alles bedacht und bestens geplant. Doreen würde ihr Fitnessstudio, das „Health care“, an diesem Abend nicht erreichen; nie mehr.
Zu gern hätte Doreen ihre Gymnastikstunde abgesagt, aber Birgit, die Trainerin des „Health care“, feierte heute Abend ihren Geburtstag. Da war es üblich, dass sie hinterher nochetwas zusammen tranken, und außerdem hatte Doreen das Geschenk für Birgit besorgt. Die anderen Frauen aus ihrer Gruppe würden nicht verstehen, wenn Doreen sie heute im Stich ließe. Also legte Doreen das in orangefarbenes Papier eingewickelte Taschenbuch über Feng Shui ganz oben auf ihre Sportsachen und zog entschlossen den Reißverschluss ihres Rucksacks zu. Sie steckte ihr Handy ein und verabschiedete sich von Vanessa, dem Babysitter. Martha schlief bereits tief und fest, also würde Vanessa ihr Geld wahrscheinlich auch heute wieder leicht verdienen. Doreen schaute in den bewölkten Himmel, während sie ihre Handschuhe anzog. Es sah nach Schnee aus, dachte Doreen, wahrscheinlich würde in dieser Nacht wieder einiges herunterkommen. Sie fror. An diesem Abend wäre sie lieber mit dem Auto zum Sport gefahren, doch der stand noch bei Wagners an der Tankstelle. Ihr Golf hatte einen Wackelkontakt im linken Scheinwerfer, und mit nur einem Licht loszufahren war in dieser Jahreszeit nicht ganz ungefährlich. Herr Wagner war heute nicht mehr dazu gekommen, den Schaden zu reparieren, aber er hatte versprochen, ihr das Auto morgen Vormittag vorbeizubringen. Doreen holte ihr Fahrrad aus der Garage und stieg auf. Der Ostwind fegte ihr durch die Kleider, und sie freute sich schon jetzt auf den Saunagang nach der Sportstunde. Als Doreen in den Waldweg abbog, schaltete sie ihr Licht ein. Auch wenn sie jede Baumwurzel kannte, hatte das kleine Fahrradlämpchen etwas Tröstliches für sie. Während sie durch die Kälte radelte, versuchte Doreen sich den Weg im Sommer vorzustellen. Wunderschön war es, durch die schattigen, nach Harz riechenden Baumreihen zu fahren und dabei auf in der Hitze flirrende Felder und Wiesen zu schauen.
Elsa in Maschen, im Winter 1986.
In der Schule gingen Elsa und Torsten einander aus dem Weg, aber zum Glück gab es ja noch die Nachmittage. Immer wenn Rainer mit anderen Jungen zum Fußballtraining verabredet war, trafen sich Elsa und Torsten heimlich miteinander. Seit ein paar Wochen, genauer seit jener Musikstunde, in der Torsten sein Lieblingsstück vorgestellt hatte, machte Rainer seinem besten Freund das Leben schwer. Nie war er einverstanden mit etwas, das Torsten sagte, ständig nörgelte er an seinem Freund herum. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre Elsa vielleicht sogar auf die Idee gekommen, dass Rainer eifersüchtig war. Doch sie dachte nicht weiter darüber nach, Elsa war froh, dass sie in Torsten einen Menschen gefunden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte. Meist fanden ihre Treffen in Torstens Übungsraum statt, denn dort fühlten sich Torsten und Elsa ungestört. Frau Lorenz, Torstens Mutter, war oft unterwegs und, wenn sie tatsächlich einmal zu Hause war, viel zu beschäftigt, um Elsa oder ihren Sohn überhaupt wahrzunehmen. Frau Lorenz engagierte sich in der Kirchengemeinde, immerhin hatte sie Elsa schon einmal die Hand geschüttelt und gefragt, woher die beiden sich kannten. Torstens Vater hatte Elsa dagegen noch nie gesehen. Herr Lorenz schien genauso abwesend zu sein wie Elsas Vater Friedrich, auch wenn er mit seiner Familie in einem Haus zusammenlebte. Überhaupt beklagte sich Torsten ständig über seine Eltern bei Elsa. Und in einem war er sich ganz sicher, auf keinen Fall würde er später einmal so leben wie sie. Elsa hörte Torsten zu, doch über Vera und Friedrich sprach sie nie mit ihm. Außerdem gab es
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