Liebeskind
nein, irgendetwas hatte sie voll am Oberkörper erwischt und vom Rad gefegt. War es Elsa gewesen? Doreen stöhnte auf, als sie tief einzuatmen versuchte. Der Rucksack hing ihr verdreht auf dem Rücken, es war unmöglich, ihn in dieser Position abzustreifen. Also kam sie mühsam auf die Beine, warf ihre Last ab und versuchte gerade, sich ganz aufzurichten, als ihr Gesicht plötzlich höllisch zu brennen anfing. Doreen hustete, sie übergab sich. Tränen liefen ihr aus den Augen, Wasser und Schleim drangen aus ihrem Mund, aber das Brennen wollte nicht aufhören.
„Hilfe!“, schrie sie verzweifelt.
Elsa hatte das Pfefferspray extra neu gekauft, denn die gebrauchte Flasche in ihrer Handtasche war schon alt und lang nicht mehr benutzt worden. Während Doreen sich übergab, band Elsa ihr das Nylonseil um beide Hände, danach zurrte sie es fest. Solange sie mit Doreen beschäftigt war, versuchte Elsa so leise wie nur möglich zu atmen. Doreen sollte so gut wie nichts von ihrem Angreifer mitbekommen. Danach trat Elsa ein paar Schritte zurück und schwieg.
„Hilfe!“
Doreen glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Gesicht brannte wie Feuer und es war ihr unmöglich, die Augen zu öffnen, unmöglich, etwas zu sehen. Doreen war blind geworden, und diese Tatsache verschlimmerte ihre Angst. Erneut wurde ihr schlecht, und wieder übergab sie sich. Jetzt konnte sie Finger auf ihren Armen spüren, dann, als sie sich von diesen Fingern befreien wollte, einen Widerstand.Schon lagen Doreens Hände gefesselt auf ihrem Rücken, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich den Schleim aus dem Gesicht fortzuwischen.
„Elsa?“
Stille.
„Elsa?“
Doreen weinte, als sie plötzlich ein Scharren neben sich hörte. Es klang wie ein Fahrradreifen, der sich drehte und dabei immer wieder gegen das Schutzblech stieß.
„Bitte Elsa, lass mich gehen.“
Stille. Das Schleifgeräusch war plötzlich nicht mehr da, es war, als hätte jemand den Reifen mit der Hand angehalten. In der Ferne hörte Doreen einen Wagen fahren, wahrscheinlich befand er sich auf der Hauptstraße. Doch die war viel zu weit entfernt, als dass dort jemand ihre Hilferufe hätte hören können. Doreen sackte in sich zusammen und wimmerte leise vor sich hin. Warum war sie nur zu stolz gewesen, ihrem Mann Arno die alte Geschichte von Elsa und sich anzuvertrauen? Warum hatte sie weder der Polizei noch ihrer Mutter Irmgard erzählt, was sie im Hinblick auf die Morde an Rainer und Torsten befürchtete? Wenn sie nun auf diesem Waldweg umgebracht werden würde, käme niemals jemand auf die Idee, Elsa mit der Tat in Zusammenhang zu bringen. Wenn sie jetzt hier sterben sollte, würde sie auch ihre kleine Martha niemals wiedersehen. Doreen sah Arno und Martha vor ihrem geistigen Auge Hand in Hand vor ihrem Grabstein stehen und schrie auf. Der Schleim in ihrer Nase und ihrem Hals verhinderte, dass sie kraftvoll um Hilfe rufen konnte, aber sie musste es wenigstens versuchen. Doreen schrie. Dann horchte sie in die Stille hinein, doch da war nichts, bis auf ein Knirschen im Schnee rechts neben ihr. Doreen konnte jetzt ganz deutlich Schritte, hören.
Schritte die sich entfernten und dann auf einmal schneller wurden. Es klang wie ein Mensch, der davonlief. Elsa genoss die Wartezeit, diese Zeit vor dem sicheren Ende. Aufmerksam hatte sie alle Phasen der Verzweiflung und Wut bei ihrer Freundin aus Kindertagen verfolgt. Schließlich war Doreen zusammengebrochen und hatte nur noch gewimmert. Als Elsa jedoch ein paar Schritte von ihr weggemacht und so getan hatte, als würde sie davonlaufen, war sofort wieder neues Leben in Doreens Körper zurückgeflossen. Neues Leben und darüber hinaus vielleicht auch etwas Hoffnung, denn Doreen hob jetzt sogar ihren Kopf. Sie konnte nicht wissen, dass Elsa nur ein Spiel mit ihr spielte.
Hatten ihre Schreie Elsa vertrieben? Doreen fasste wieder neuen Mut, auch wenn sie nach wie vor blind war und ihr Gesicht noch immer brannte, als wäre es mit Säure übergossen worden. Erneut hörte sie Schritte. Jemanden, der sich auf sie zu bewegte. Elsa? Aber diesmal klangen die Schritte irgendwie anders, weicher. War es also doch nicht Elsa?
Jetzt drang eine Stimme in Doreens Bewusstsein. Eine fremde Frauenstimme, sanft klang sie, beinahe mütterlich.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Doreen fühlte schneebedeckte Hände auf ihrer Stirn. „Hier, das wird Ihre Schmerzen lindern.“
„Danke, das ist lieb von Ihnen.“
Doreen atmete auf, endlich war ihr
Weitere Kostenlose Bücher