Liebeskind
Nachname recht selten, es gab nur einen Eintrag im Landkreis. Anna schrieb die Adresse auf und nahm sich vor, auf dem Heimweg einen kleinen Abstecher dorthin zu machen.
„Hat sich noch immer niemand auf unseren Aufruf bezüglich der möglichen Zeugin vom ZOB gemeldet, Weber? Wir brauchen endlich eine Spur von der Frau.“
„Nein, und ich glaube auch nicht, dass da noch etwas zu erwarten ist. Schließlich sind schon ein paar Tage seit dieser Pressegeschichte ins Land gegangen. Vielleicht liegt die Markisch mit ihren Überlegungen doch nicht so falsch.“
Anna bemühte sich, Webers letzten Satz zu übergehen, konnte ihm seine Haltung aber nicht ganz verdenken. Sie begann ja selbst schon an ihrer Theorie zu zweifeln, schließlich gab es bisher keinerlei konkrete Hinweise darauf, dass die Wirtshausbekanntschaft von Rainer Herold zugleich auch seine Mörderin gewesen war. Anna blieb daher nichts weiter übrig, als abzuwarten, ob sich in den nächsten Tagen nicht vielleicht doch noch eine Spur zu dieser Frau auftun würde. Tatsächlich gab es auch eine Reihe anderer denkbarer Erklärungen für das Verhalten der rothaarigen Unbekannten. So konnte sie zum Beispiel die Presse nichtverfolgt haben oder aber nur auf der Durchreise gewesen sein. Doch bis sich diesbezüglich etwas Neues ergab, galt es für Anna, den Blick offen zu halten. Sie würde nach anderen möglichen Motiven suchen und dabei auch der Theorie von Sigrid Markisch nachgehen.
Der Mord an Torsten Lorenz hatte ihrem Fall in der Tat eine neue Dimension verliehen, die es erforderte, weiter unter Hochdruck zu ermitteln. Mit Dirk Adomeit, dem Jungen, dem Torsten und Rainer als Jugendliche das Leben schwer gemacht hatten, würde Anna beginnen und sich dann anschließend systematisch durch die gemeinsam verbrachten Lebensjahre der Ermordeten auf der Suche nach weiteren Hinweisen und Motiven arbeiten. Noch einmal tauchte die Schlagzeile aus der Landkreiszeitung vor Annas Augen auf. „Wer ist das Ungeheuer von Maschen?“ In der Tat war Maschen die Verbindung und möglicherweise sogar der Schlüssel für diese beiden außergewöhnlich brutalen Verbrechen. Und wer wusste schon, ob das Morden bereits vorbei war oder ob „das Ungeheuer von Maschen“ nicht gerade seinen nächsten Schritt plante.
Der Vorteil an Elsas äußerer Verwandlung und an ihrem neuen Auftreten war, dass die Männer in sie hineinlesen konnten, was immer sie wollten. Es hatte nicht viel gebraucht, und Elsa war für Rainer zur Prinzessin geworden. Und zur Hure für Torsten. Was würde sie für Doreen sein?
Elsa saß auf dem Bett ihres Apartments und aß einen Joghurt. Verblüffend, er schmeckte tatsächlich nach Erdbeeren. Er schmeckte sogar so sehr nach Erdbeeren, wie nicht einmal Erdbeeren nach Erdbeeren schmeckten. Elsa lächelte. Sie war an dieser geschmacklichen Täuschungnicht ganz unbeteiligt, arbeitete sie doch als Chemikerin in einem Labor des Herstellers. Elsa wusste selbst am besten, welche Zutaten wirklich in den Joghurtbechern enthalten waren, und mit frischen Früchten hatte das Ganze kaum mehr etwas zu tun. Die Erkenntnis, dass sich viele vermeintlich guten Dinge des Lebens bei genauerer Betrachtung als Betrug herausstellten, hatte Elsa zu diesem Beruf geführt. Kaum jemand machte sich heute noch die Mühe, seinen Joghurt selbst zusammenzurühren. Im Gegenteil. Die meisten Menschen aßen die mit künstlichen Aromen versetzten Produkte der Lebensmittelindustrie bei Weitem lieber als die natürlichen. Die Leute liebten die Intensität und Süße dieser Täuschung, und Elsa arbeitete kräftig daran mit. So hatte sie Macht, wenn auch nur über den Geschmackssinn ihrer Mitmenschen. Diese Vorstellung gefiel ihr. Elsa schaltete den Fernseher ein und starrte auf die Wand über den bewegten Bildern. Wollte sie überhaupt einen letzten gemeinsamen Augenblick mit der Freundin aus Kindertagen teilen, bevor es für diese ans Sterben ging?
Elsa in Maschen, im August 1985.
„Was, um Himmels willen, ist das?“
Friedrich nahm Elsas Arm in seine Hände, dann strich er den heruntergerutschten Pulloverärmel vorsichtig wieder hinauf. Er sah auf vernarbte Haut. Schnittverletzungen, wohin er auch blickte, dicht an dicht. Einige klein und wie geritzt, andere tief. Fast wie ein Muster, dessen Gesetzmäßigkeit der Vater nicht verstand. Und doch schien es einer Gesetzmäßigkeit zu folgen. Einige Narben waren alt und verheilt. Andere rot, von zartem Fleisch umgeben, Wunden, nicht mehr als ein paar
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