Liebeskind
eigentlich alles gut gewesen. Oder man hatte auf der anderen Seite gestanden und zu den Losern gehört. Die meisten hatten sich allerdings immer irgendwo dazwischen aufgehalten. Doch sogar wenn man irgendwie dazugehört hatte, hatte es geschehen können, dass man unglücklich war. Anna erinnerte sich an eine ihrer Jugendfreundinnen, die damals sehr unter ihrem Aussehen gelitten hatte. Die sich beklagthatte, dass sie nur wahrgenommen wurde, weil sie außergewöhnlich hübsch war. Alle Jungen wollten sie einladen und sich mit ihr schmücken. Es gäbe niemanden, so meinte sie, der sich wirklich für sie selbst und ihre Gedanken interessierte. Dieses Mädchen stellte sich vor, ihr ebenmäßiges Gesicht mit einem Messer zu verunstalten. Eine kleine Narbe würde vielleicht schon reichen, auf jeden Fall aber wollte sie sich das lange Haar bis auf die Kopfhaut abrasieren. Und erst wenn dann noch jemand übrig bleiben würde, der sich für sie interessierte, würde sie glauben, dass er es auch wirklich ernst meinte. Nie fühlte sich ihre Kinderfreundin auf der richtigen Seite. Vielleicht hätte sie das Experiment wagen sollen, mit dem sie stets nur in Gedanken gespielt hatte. So aber hatte sie sich immer nur etwas anderes gewünscht und bei den anderen Mädchen beklagt.
Anna dachte plötzlich an Ben. Zu welcher der beiden Seiten er wohl gehörte?
Die Kommissarin schaute auf ihre Armbanduhr, es war höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Wieder spürte sie die Plastiktüte in ihrer Hosentasche liegen und winkte Elfi, die Kellnerin, heran. Dirk Adomeit beobachtete Anna Greve aufmerksam. Fast schien es ihr, als würde er bedauern, dass ihr Gespräch für heute zu Ende war. Im Hinausgehen gab ihm Anna ihre Karte.
„Wenn mir noch Namen einfallen, werde ich sie für Sie aufschreiben und sie Ihnen anschließend zufaxen.“
Wenn Dirk Adomeit lächelte, war er ein sympathischer Mann.
Tom empfing Anna mit einem Wischlappen und Gummihandschuhen an den Händen.
„Die drei Handwerker sind der Hammer. Haben mir vorhin etwas von einem neuen Hahn erzählt. Den wollen sie morgen extra so anbringen, damit die Hausfrau“, er grinste, „also du, mit ihren kleinen Händen in Zukunft besser darum herumwischen kann.“
Anna seufzte.
„Ich weiß genau, was du meinst.“
„Jedenfalls stehen sie sich gegenseitig auf den Füßen herum. Wenn wir viel Glück haben, werden sie morgen mit der Heizung fertig werden.“
Auf ihrem Weg in die Küche hob Anna ein paar Lehmklumpen vom Fußboden auf. Im Flur sahen die Fliesen allerdings, trotz Toms Kosmetikversuchen, noch immer so aus, als ob ein paar Schweine über sie hinweggerannt wären. Zumindest was den Schmutz anging, hatten die Handwerker ganze Arbeit geleistet.
„Paula hat angerufen und wollte wissen, ob wir jetzt, da Elisabeth nicht da ist, wegen des Heizungschaos ihre Hilfe brauchen könnten. Ich habe natürlich sofort ja gesagt. Also kommt sie morgen und kümmert sich um alles.“
Anna atmete erleichtert auf, denn sie hätte sich beim besten Willen nicht schon wieder freinehmen können. Erst jetzt zog sie die kleine Plastiktüte aus ihrer Hosentasche hervor und schwenkte sie durch die Luft.
„Hier, das habe ich heute bei Ben gefunden.“
„Das ist ein Scherz, oder?“
Aber Anna lächelte nicht.
„Im Ernst, Anna, er ist auf jeden Fall zu jung für so ein Zeug. Ich war deutlich älter, als ich meinen ersten Joint geraucht hab. Allerdings fürchte ich, dass es nicht einfach werden wird, mit Ben ins Gespräch zu kommen.“
„Trotzdem müssen wir ihm sagen, dass wir von dem Graswissen. Schon damit er nicht denkt, jemand hätte es ihm gestohlen.“
Tom und Anna waren sich einig, so schnell wie möglich ein ernstes Wort mit Ben sprechen zu wollen. An diesem Abend hatte sich Ben aber bereits in sein Zimmer zurückgezogen, was Anna nur recht war, denn sie spürte, dass sie die Kraft für eine Auseinandersetzung mit ihrem älteren Sohn heute nicht mehr aufgebracht hätte.
Im Büro stand am nächsten Morgen zuallererst eine Dienstbesprechung an, in der Anna Greve ihre Kollegen über ihren Besuch bei Dirk Adomeit am vorangegangenen Abend unterrichtete.
„Was macht der Mann denn sonst so?“, fragte Sigrid Markisch, nachdem Anna geendet hatte.
„Beruflich? Ich habe keine Ahnung.“
„Wie kann das sein, Frau Greve? Sollten wir nicht erst einmal unsere Hausaufgaben erledigen, bevor wir eine Dienstbesprechung anberaumen?“
„Was soll denn das nun wieder?“, blaffte Anna zurück.
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