Liebeskind
Alten geblieben, Frau Possel schien leider kein bisschen auf Vera abzufärben. Zu Hause gab es keinen selbst gebackenen Kuchen und keine heiße Schokolade. Keine Teller mit lecker angerichteten Obststücken oder kleinen Häppchen mit Käse oder Wurst mit Rosen aus Radieschen darauf. Dafür brachte Vera immer öfter einen Eierlikör zu den Treffen bei Doreens Mutter mit, manchmal auch eine Flasche süßen Sekt. Frau Possel hatte aus Höflichkeit und mit gleichbleibend freundlicher Miene das eine oder andere Glas mitgetrunken. Den Löwenanteil allerdings hatte sich Vera jedes Mal selbst einverleibt. Wenn es dann Zeit fürs Abendbrot geworden war und die Mädchen zusammen in der Küchentür gestanden hatten, hatte Elsa Veras verschwitzte Wangen und auch ihren rotfleckigen Hals sehen können. In der Küche aber hing der Zigarettenqualm zum Schneiden dick, und als Erstes öffnete Frau Possel immer das Fenster, sobald Vera Anstalten machte, nach Hause zu gehen. Nein, wahrscheinlich hatte Doreen damals gar nicht anders gekonnt, als sich von Elsa abzuwenden. Wer wollte schon auf Dauer mit einem Mädchen befreundet sein, dessen Mutter so wie Vera war.
Halt, dachte Elsa. Natürlich war Vera eine unmögliche Person, aber Elsa tat ihr Unrecht, wenn sie sich die Vergangenheit im Nachhinein so zurechtlegte, wie es ihr angenehmer war. Doreen hatte sich aus eigenen Stückenund aus was für Gründen auch immer dazu entschlossen, Elsa die Freundschaft zu kündigen. Mehr noch, Doreen war ihr nicht nur aus dem Weg gegangen, sie hatte Elsa sogar verraten. An jenem Nachmittag, als die Meute in einem Halbkreis um Elsa herumgestanden und sich voller Schadenfreude über sie lustig gemacht hatte, war Doreens Stimme diejenige gewesen, die alle anderen noch übertönt hatte. Für einen Augenblick hörte Elsa Doreen noch einmal in ihrer gehässigen Art und Weise lachen. Und danach hörte sie ihre Freundin die Worte sagen, die sie ihr bis heute nicht verziehen hatte.
„Seht euch an, wie rot sie ist!“
Elsa hatte viel zu lange damit gewartet, es dieser Hexe endlich heimzuzahlen. Es war egal, ob Doreen heute Kinder hatte oder nicht. Und selbst wenn sie mittlerweile die Verantwortung für einen ganzen Stall voller Kinder tragen würde, dürfte Doreen ihrer Strafe nicht entgehen. Es brauchte nur noch ein wenig Geduld, Zeit und gute Vorbereitung, dann aber würde Elsa ihrer Freundin aus Kindertagen endlich den Mund stopfen.
Dirk Adomeit hatte gerade im Büro des Morddezernats Platz genommen, als Sigrid Markisch nach einer kurzen Begrüßung auch schon das Aufnahmegerät einschaltete.
„Heute ist Donnerstag, der 29. November, elf Uhr vormittags. Anwesend sind der geladene Zeuge Herr Dirk Adomeit, geboren am 25. August 1972, wohnhaft in Maschen, sowie die Kommissare Greve, Weber und Markisch.“
Die Giraffe nahm einen Zettel aus der vor ihr liegenden Akte und schob sie über den Tisch hinweg zu Dirk Adomeit.
„Wir haben hier den Auszug einer Liste der von Ihrem Anschluss aus getätigten Telefongespräche vom Mai dieses Jahres.“
Dirk Adomeit sah sich Hilfe suchend nach Anna Greve um.
„Am Donnerstag, den zehnten Mai, haben Sie in der Zentrale der Hessen Bank in Frankfurt am Main angerufen. Können Sie uns sagen, warum?“
„Das ist doch fast ein halbes Jahr her. Wie soll ich mich da noch an ein einzelnes Telefonat erinnern?“
Sigrid Markisch erhob sich von ihrem Stuhl und stellte sich hinter ihn.
„Denken Sie nach, Herr Adomeit. Welchen Grund könnten Sie für diesen Anruf gehabt haben?“
„Ach so, nun fällt es mir wieder ein. Ich habe ein Klassentreffen organisieren wollen.“
Er schaute zu Boden.
„Und deshalb brauchten Sie natürlich die Adresse und Telefonnummer Ihres ehemaligen Mitschülers Rainer Herold.“
Sigrid Markisch konnte sehr freundlich sein, wenn sie wollte.
„Ich hatte gehört, dass Rainer mittlerweile in Frankfurt arbeitet.“
Wieder lächelte die Kommissarin aus Hannover, doch ihr Lächeln ähnelte dem Grinsen einer Raubkatze.
„Und wann hat dieses ominöse Klassentreffen stattgefunden?“
„Gar nicht. Irgendwann ist mir meine Idee einfach nicht mehr so gut vorgekommen.“
Obwohl sich seine Geschichte im ersten Moment konstruiert anhörte, konnte sie trotzdem wahr sein, dachteAnna Greve bei sich. Vielleicht hatte Dirk Adomeit ja angefangen, sich verstärkt mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, weil er in der Gegenwart so einsam war. Anna wusste, dass sehr viele Menschen dazu neigten, ihre
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