Liebeskind
aufzuhören, nicht den Eindruck, als wären ihre Ermahnungen bei Florian auch wirklich angekommen. Mit gemischten Gefühlen kehrte Anna nach Hause zurück, wo Ben und Tom bereits auf sie warteten.
„Und, wie ist es gelaufen, Mama? Du wirst Flo doch nicht etwa verraten, oder?“
„Ich kann noch nichts Endgültiges dazu sagen, Ben, denn meine Entscheidung wird auch von dir abhängen. Wenn ich allerdings sehe, dass du tatsächlich damit aufhörst, diese verdammten Joints zu rauchen, werde ich die ganze Geschichte sicherlich auf sich beruhen lassen. Florianhat beteuert, dass er bisher nur zweimal eine geringe Menge Gras in Hamburg besorgt und an seine Freunde verteilt hat. Außerdem hat er mir versprochen, schleunigst mit dem Dealen aufzuhören. Wir werden sehen.“
„Du kannst dich auf mich verlassen, Mama; und auch auf Flo, versprochen“, entgegnete Ben mit jungenhaftem Lächeln und nahm Anna in den Arm.
Als Ben kurz darauf in seinem Zimmer verschwunden war, schenkte Tom seiner Frau ein Glas Rotwein ein und sagte schmunzelnd: „Wir selbst sind auch nicht unbedingt leuchtende Vorbilder in Sachen Drogen. Trotzdem, Anna, ich finde es wunderbar, wie du die Probleme mit Ben anpackst.“
In diesem Moment war es mit Annas guten Vorsätzen vorbei. „Vielen Dank auch für die Blumen, Tom. Ich würde es dagegen klasse finden, wenn du dich dazu durchringen könntest, mich in Zukunft ein wenig mehr bei der Erziehung unserer Kinder zu unterstützen“, erwiderte sie gereizt und stellte fest, dass Toms Verhalten auf Dauer untragbar für sie war. Niemals würde Anna den Spagat hinbekommen, von dem sie gestern noch geträumt hatte. Sie konnte Tom nun einmal nicht nur als ihren Liebsten betrachten und dabei völlig ausblenden, dass er auch der Vater ihrer Kinder war.
Elsa in Maschen, im Frühjahr 1986.
Da lag nur eine Ansichtskarte im Briefkasten. Elsa nahm sie heraus und öffnete die Haustür. Auf der braunen Kommode im Flur sah sie bereits einen Stapel mit Briefen, Werbezetteln und dem Wochenblatt liegen. Es war der Rest der Tagespost, die Vera am Vormittag herausgenommen hatte. Friedrichs Karte hatte sie im Briefkasten liegen gelassen, denn sie war an Elsa gerichtet. Vorn grün schillerndes Meer, Palmen und ein alter Dreimaster. Sie drehte die Karte um.
Liebe Elsa, las Elsa.
Viele Grüße aus dem Indischen Ozean. Ich hoffe, ihr seid alle gesund und munter. Hier ist es fremd und heiß. Wie ist es bei euch? Schreib doch mal wieder,
Dein Vater
Hatte er seinen Plan, zur See zu fahren, also tatsächlich wahr gemacht. Und nun sandte er unverbindliche Worte an sie, so als ginge ihn alles, was hier geschah, nichts mehr an. Die Weihnachtstage waren ohne eine Nachricht von Friedrich vergangen. Sogar Elsas Geburtstag, Anfang Januar, hatte er vergessen. Ihr Vater hatte sich weit entfernt mittlerweile. Und bei ihnen war es traurig wie immer. Nein, es war zu spät, er würde Elsa nie an die Hand nehmen und mit ihr zusammen ein neues Leben beginnen. Dabei hatte sich Elsa so sehr nach jemandem gesehnt, der sie an die Hand nahm. Aber sie war allein, ab jetzt gab es für sie keine Eltern mehr, basta. Friedrich schrieb ihr die bunten Karten nur, um sein Gewissen zu beruhigen. Und vielleicht auch, weil sie seinen Platz innerhalb der Familie einnehmen sollte. Schluss damit, es war an der Zeit, dass sie sich endlich auf sich selbst besann. Elsa, das Waisenkind, musste lernen zu laufen. Eigene Schritte zu tun, ja, sie war in den vergangenen Monaten viel zu freundlich zu Vera gewesen. Elsa betrachtete sich und ihren Körper, ihren Feind. Hässliches Gesicht. Hässliche Elsa. Und in der Klasse ging es mittlerweile zu wie in einem Hühnerstall. Selbst die stillen grauen Mäuse schickten jetzt Briefe. Kleine Zettel, im Unterricht hinter dem Rücken des Lehrers weitergereicht. Ankreuzbegehren für die blassen Jungen mit den verpickelten Gesichtern. „Willst du mit mir gehen?“ Elsa ließ die Zettel fallen, jedes Mal, wenn sie an der Reihe war. Ihre Hände hatten keine Lust mehr, ein Glied der Kette zu sein.
Warum war sie immer noch hier, warum war sie nicht weit fort wie Friedrich?
Wieder einmal war das Haus so still und dunkel, als würde sie allein darin leben. Anna dachte daran, wie sehr sie sich auf diesen Abend gefreut hatte, doch wie schon so oft in den letzten Monaten saß sie ohne ihren Mann im Wohnzimmer herum. Dabei war es noch nicht einmal Mitternacht. Wo sollte sie nur mit all ihrer Sehnsucht nach Tom und ihren chaotischen
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