Liebeskind
Jugendzeit zu verklären und Freundschaften und Erlebnisse bedeutender zu sehen, als sie in Wirklichkeit gewesen waren. Besonders dann, wenn sie allein lebten. Dirk Adomeit könnte die Idee gehabt haben, durch das Organisieren eines Klassentreffens wieder an alte Freundschaften anknüpfen zu können. Oder aber er hatte noch einmal ganz andere Gründe dafür gehabt.
„Eine seltsame Geschichte“, entgegnete die Giraffe. „Und es fällt mir schwer, sie zu glauben. Ich kann mir eher vorstellen, dass Sie wegen etwas ganz anderem Kontakt zu Rainer Herold aufgenommen haben. So könnten Sie sich zum Beispiel schon vor langer Zeit daran erinnert haben, dass Herr Herold in Anlagegeschäften nicht ganz unerfahren ist. Vielleicht haben Sie sich sogar von ihm beraten lassen und sind dann später mit dem Resultat seiner Arbeit unzufrieden gewesen.“
Als Dirk Adomeit protestieren wollte, wischte Sigrid Markisch seinen Versuch mit einem Kopfschütteln beiseite.
„Rainer Herold hat Sie vielleicht schon seit Langem mit Anlagetipps versorgt und dafür ein paar Prozente des Gewinns erhalten. Bis Sie sehr viel Geld verloren haben. Und es ist durchaus möglich, dass Sie dafür einen Schuldigen gesucht und in Rainer Herold gefunden haben.“
„Das ist nicht wahr.“
„Nichtsdestotrotz werde ich mich um eine Verfügung bemühen, die uns Einsicht in Ihre Kontobewegungen erlaubt. Für heute können Sie gehen, oder haben die Kollegen noch Fragen an den Zeugen?“
„Ja, ich habe noch eine Frage zu Monika Diebach, Herr Adomeit“, meldete sich Anna Greve zu Wort. „Wir sind dabei, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und daher würde ich die damaligen Ereignisse gern noch einmal aus Ihrer Sicht geschildert bekommen. Was ist denn bei besagter Klassensprecherwahl eigentlich genau geschehen?“
„Monika ist allgemein sehr beliebt gewesen, und sie hat auch unsere Interessen als Schüler gut vertreten. Ich glaube, dass es den beiden, besonders aber Rainer, nicht gepasst hat, dass Monika noch für ein weiteres Jahr weitermachen sollte. Daher hat Rainer seinen Freund Torsten als Gegenkandidaten für die Wahl aufgestellt und einige Mitschüler dazu motiviert, ihn zu wählen.“
„Und wie hat er das erreicht?“
„Na ja, bei einigen durch Bestechung, bei anderen auch durch das Androhen von Prügeln.“ Dirk Adomeit lächelte verschmitzt in sich hinein. „Allerdings habe ich meine Stimme trotzdem der Monika gegeben.“
„Was soll denn der ganze Kinderkram hier überhaupt bringen“, mischte sich Sigrid Markisch in das Gespräch ein. „Eine getürkte Klassensprecherwahl als Mordmotiv, das ist doch wirklich sehr weit hergeholt, Kollegen.“
„Vielen Dank für Ihre Aussage, Herr Adomeit. Für heute habe ich keine weiteren Fragen“, überging Anna den Einwand der Giraffe und überlegte, als Nächstes das Gespräch mit Günther Sibelius zu suchen.
Anna klopfte an die Tür ihres Vorgesetzten.
„Störe ich?“
„Nein, kommen Sie ruhig herein.“
„Da ich ja weiß, wie detailliert wir von jetzt an über unsere Zeit Rechenschaft ablegen müssen, wollte ich Ihnennur sagen, dass ich gleich mit meinem Mann verabredet bin. Er hat einen Termin in der Stadt und rief mich vorhin an. Es ist nur auf einen Kaffee, ganz in der Nähe, aber rein privat.“
Günther Sibelius grinste.
„Wirklich nett, Frau Greve, dass Sie mich informieren. Das sollte aber nicht zur Gewohnheit werden. Das Informieren, meine ich. Und, wie sieht es aus; hat die Vernehmung von Dirk Adomeit etwas Neues ergeben?“
„Eher nicht, Chef. Die Kollegin Markisch scheint sich mittlerweile ganz auf Herrn Adomeit eingeschossen zu haben, aber ich kann ihn mir nach wie vor nicht als Täter vorstellen. Und je öfter ich mit ihm spreche, desto stärker werden meine Zweifel. Wir müssen abwarten, was die weiteren Ermittlungen bringen. So, ich bin dann mal weg.“
Während Anna den Vectra einparkte, dachte sie darüber nach, wie sie eine Verabredung wie diese in ihren zukünftigen Wochenprotokollen wohl begründen würde. Nein, sie würde gar nichts begründen, schließlich würde auch niemand danach fragen, wie oft sie abends viel zu spät nach Haus kam. Hatte sie sich diese Zeiten jemals aufgeschrieben? Hatte sie jemals gesagt, sie käme heute nicht zum Dienst, weil sie Überstunden abfeiern musste? Sollten die anderen tun, was sie für richtig hielten, Anna würde sich auf keinen Fall daran beteiligen.
Ein paar Meter vor sich sah sie Tom in Richtung ihres Treffpunktes schlendern.
Weitere Kostenlose Bücher