Liebeskind
Groß und schlank, mit wiegendem Schritt, und Anna dachte daran, wie schön es war, beim Tanzen in seinen Armen zu liegen. Er konnte so unglaublich sinnlich sein. Dazu sein runder, fester Po in der lässig weiten Jeans, was für ein Anblick. Undenkbar war es fürAnna gewesen, mit einem Mann zusammenzuleben, der sich nicht zu bewegen verstand. Obwohl – Tom hätte sie vielleicht trotzdem in ihr Herz gelassen. Anna fror überhaupt nicht mehr, dabei hatte sie Schal und Mütze im Büro vergessen. Gleich würde er sich umdrehen, sie erkennen und dann so küssen, dass sie eine Gänsehaut davon bekäme. Es war schön, zu ihm zu gehören. Und wären sie beide allein auf der Welt gewesen, hätte Anna keinerlei Zweifel daran gehabt, dass dies auch immer so bleiben würde. Nun drehte sich Tom tatsächlich um. Anna sah die Freude in seinen grauen Augen und flog in seine Arme.
Elsa in Maschen, im Winter 1985.
Elsa hasste es, von fremden Händen berührt zu werden, besonders aber hasste sie es, wenn Vera nach ihr grapschte. Das war noch schlimmer als das Getätschel von Tante Gertrud. Veras Hände waren für Elsa, als hätte sie in eine Steckdose gegriffen, Veras Hände waren wie ein elektrischer Schlag. Die Intensität dieser Schläge hatte sich mit den Jahren verstärkt und beschränkten sich schon lange nicht mehr nur auf die Berührungen ihrer Mutter. Elsa hatte an diesem Tag einen Ausflug nach Hamburg unternommen, jetzt war es spät am Nachmittag, und sie befand sich zusammen mit vielen Pendlern auf dem Weg hinaus aus der Stadt. Der Bus war, obwohl er die Haltestelle an der S-Bahn-Station gerade erst verlassen hatte, zum Bersten voll. Elsa hatte mit Glück noch einen Sitzplatz ergattert. Neben ihr saß ein feister Mann, der seinen gewaltigen Körper so vor dem Fenster aufbaute, dass sie keinen Blick mehr auf den Himmel hatte. Er drehte und wendete sich auf seinem viel zu schmalen Sitz und kam dabei immer näher an sie heran. Sein Arm streifte aus Versehen Elsas Ellenbogen. Die Berührung war wie ein Stromstoß. Elsa rutschte noch ein Stück weiter von ihm weg, versuchte sich so klein wie möglich zu machen. Die Frau vor ihr auf dem Gang drückte ihre Beine und ihre Einkaufstasche an Elsas Seite und sah sie dabei fortwährend missbilligend an. Elsa rutschte wieder auf ihren Sitz zurück. Sie schaute in eine andere Richtung, doch überall waren Köpfe, Arme, Schultern, die ihr den Blick aus den Fenstern versperrten. Sie schwitzte, das Atmen fiel ihr schwer, und sie sog die Luft gierig und in immer kürzeren Abständen ein. Ihre Beine fingen zu kribbeln an, wenn sie nicht bald etwas tat, würde sie sich nicht mehr bewegen können. Sie bot der Alten vor sich ihren Platz an, zwängte sich durch Rümpfe, Arme, Köpfe, Mäntel und Einkaufstaschen zur Tür hindurch und drückte auf den Halteknopf. Weit fort von zu Hause an der Landstraße sah sie den Bus an sich vorbeifahren. Sie schaute ihm nach, bis er hinter einer Kurve verschwunden war. Der nächste Bus würde erst in einer Stunde kommen, aber er würde sicher nicht mehr so voll sein. Elsa sah auf ihre Beine, sie kribbelten noch immer. Sie setzte sich in den Straßengraben, wo ihr auf einmal schlecht wurde und sie sich zwischen umherliegenden Fastfoodverpackungen und Plastikbechern übergab. Als sie anschließend wieder stand, waren gerade einmal fünf Minuten vergangen, noch eine Ewigkeit bis zum nächsten Bus. Elsa blinzelte in das Licht der herannahenden Autoscheinwerfer. Eines verlangsamte sein Tempo und kam auf ihrer Höhe zum Stehen. Doreen kurbelte das Autofenster herunter. Neben ihr auf dem Fahrersitz saß Frau Possel. Sie lächelte vertraut.
„Steig ein, Elsa, ich bringe dich eben nach Hause.“
Mit großer Sehnsucht im Herzen fuhr Anna in die Dienststelle zurück. Ihr Treffen mit Tom war wie ein heimliches Rendezvous gewesen. Über alltägliche Dinge hatten sie kaum gesprochen, stattdessen hatten sie einander fast die ganze Zeit über an den Händen gehalten und sich in dieAugen gesehen. Ob Tom den neuen Kunden an Land gezogen hatte? Anna wusste es nicht. Und hatte er Ben die Leviten gelesen?
All das war im Moment unwichtig für sie. Anna wusste, sie würde damit umgehen lernen müssen, dass sie, soweit es die Erziehung ihrer Söhne betraf, ganz allein dastand. Wenn sie Tom nicht verlieren wollte, würde sie sich mit der unumstößlichen Tatsache arrangieren müssen, dass er als Vater völlig unfähig war. Sie hoffte, den Spagat hinzubekommen und in Tom
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