Liebeskind
nachher die Kleine ins Bett? Es kann spät werden, wir gehen nämlich aufs Sommerfest des MVV.“
Der MVV war der Maschener Verkehrsverein und Herr Wegener einer seiner Busfahrer. Er machte des Öfteren Pause in der Kehre vor dem Haus der Hollsteins, so hatte Vera ihn kennen gelernt. Das war vor drei Wochen gewesen, und seitdem war kein Tag ohne Wegenerkontakt verstrichen. Gestern in der Nacht war der Kontakt sogar so weit gegangen, dass man Herrn Wegener durch die Tür des Elternschlafzimmers hatte stöhnen hören können. Wenigstens trank Vera ihren Schnaps nun nicht mehr allein oder ging in die Heidbergklause, um sich mit irgendwelchen Männern einen anzusaufen. Gestern war auch wieder eine Postkarte von Friedrich gekommen. Diesmal hatte Vera sie für Elsa auf den Schreibtisch gelegt. Elsas Vater schipperte noch immer auf den Meeren herum und hatte offensichtlich Besseres zu tun, als sich um seine Kinder zu kümmern. Elsa nahm die Postkarte zusammen mit den anderen und dem Brief von Friedrich aus ihrer Holzschachtel heraus und begann, das Papier mit einer seiner Rasierklingen in kleine Stücke zu zerschneiden. Danach schrieb sie ein paar Zeilen an Robin und setzte sich auf ihr Fahrrad. Sie fuhr den weiten Weg durch den Wald bis zu den Feuchtwiesen an der Seeve. Atemlos ließ sie das Rad neben sich ins Gras fallen. Sie schloss die Augen, endlichwar Stille. Doch nach einer Weile drang aus der Entfernung Gelächter an Elsas Ohr. Sie stand auf, um zu sehen, wer den Lärm verursachte, und erkannte ein paar Mädchen aus ihrer Klasse, in deren Schlepptau sich ein paar verpickelte Ankreuzbegehren befanden. Jetzt schwoll das Geschrei weiter an, denn die Jungen versuchten, ihre Favoritinnen in die Seeve zu ziehen. Elsa hörte hysterische Mädchenschreie, in denen Angst, aber auch Vergnügen mitschwang. Der Fluss war nicht sehr tief, doch er hatte an einigen Stellen eine starke Strömung und war sogar jetzt, im Sommer, kalt wie ein Gebirgsbach. Elsa hockte sich hin und beobachtete Torsten und Rainer, die gerade dabei waren, Paula hinterherzujagen. Ja, so wie Paula sollte man sein, dann wäre das Leben leicht. Paula war ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse, und Elsa hatte schon oft gesehen, wie ihr irgendwelche Jungen, auch solche aus den oberen Jahrgängen, Zettelchen zusteckten. Aber warum gab sich Paula überhaupt mit diesem Kindergarten ab, wo sie doch ganz andere haben konnte? Und was machte ausgerechnet Torsten hier? Der hatte schließlich etwas im Kopf und war für einen Jungen gar nicht einmal so übel.
Günther Sibelius saß zusammen mit Anna, Weber und Antonia Schenkenberg in der Polizeikantine in Hamburg Alsterdorf.
„Die Anzeigen über Zwischenfälle mit Nichtsesshaften im Hamburger Umland häufen sich wieder“, berichtete er. „Es ist fast so wie vor ein paar Jahren, als Innensenator Poll am Ruder war. Die Obdachlosen stehen zwar nicht mehr am Hauptbahnhof oder in der Innenstadt herum, aber damit ist das Problem noch lange nicht aus der Welt. Irgendwo müssen sie sich schließlich ja auch aufhalten. Vor dem Rathaus in Harburg soll jetzt wieder so ein Treffpunkt entstanden sein. Die örtliche Polizei ist hoffnungslosüberfordert, auf einen solchen Andrang waren sie nicht vorbereitet.“
„Genau wie in Pinneberg“, setzte Antonia Schenkenberg hinzu. „Da komme ich fast jeden Tag an dem Platz vorbei, an dem sie sich versammeln, es sind manchmal an die hundert Menschen.“
„Und in den U- oder S-Bahnen in Richtung Vororte werden wieder vermehrt Drogen unter die Leute gebracht. Dort ist es allerdings viel schwerer, Kontrollen durchzuführen, als früher neben dem Hauptbahnhof in der Kirchenallee.“
Günther Sibelius klopfte sich auf die Schenkel, hatte aber kein vergnügtes Gesicht dabei.
„Übrigens habe ich heute die Mitteilung auf den Schreibtisch bekommen, dass unser Weihnachts- und Urlaubsgeld weiter gekürzt wird. Damit wurde die Erhöhung unserer Bezüge nicht nur rückgängig gemacht, nein, unterm Strich werden wir in Zukunft sogar noch weniger im Portemonnaie haben als früher.“
„Mehr Arbeit für weniger Geld. Was für ein Spaß, unter Schönauers Leitung zu den Guten zu gehören“, lachte Anna bitter.
Wie aufs Stichwort kam Martin Schönauer in diesem Augenblick zu ihnen an den Tisch.
„Ach, hier stecken Sie, Herr Sibelius. Auf ein Wort.“
„Wahrscheinlich will er dem Chef jetzt den Mund wegen der beschlossenen Schweinerei mit unseren Bezügen verbieten“, flüsterte Weber
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