Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Treeske dachte: Er hat für mich getötet. Kann es eine größere Liebeserklärung geben? Die Frage, warum er dies nicht schon Wochen früher getan hatte, stellte sie sich nicht.
Am nächsten Tag erhielt Mathilde einen dicken Brief von der Kanzlei Nössel. Es war der Entwurf eines Ehevertrags, in dem Lukas seine Forderungen im Fall einer Trennung oder Scheidung manifestiert hatte. Im ersten Punkt ging es um die verkaufte Wohnung im Zooviertel. Nach Abzug der Hypothek würde der Erlös bei rund 220 000 Euro liegen. Davon beanspruchte Lukas zwei Drittel. Zweitens wollte er, daß Mathilde die Hälfte ihrer Aktien auf sein Depot übertrug. Die Aktien und deren Stückzahlen waren penibel aufgeführt, was von einer gründlichen Recherche in Mathildes Unterlagen zeugte. Alles in allem verlangte er damit etwa 190 000 Euro. Zusätzlich umfaßte sein Forderungskatalog etliche Einrichtungsgegenstände, darunter seinen Massagesessel und die neu angeschaffte Büroeinrichtung. In einem Begleitbrief schrieb der Anwalt, sein Mandant erkläre sich im Gegenzug bereit, jetzt und in Zukunft auf Unterhalt zu verzichten sowie auf »seine« Hälfte der Immobilie in Ricklingen. Mathilde wurde gebeten zur Unterzeichnung des Vertrages am Montag, dem 15. August 2005, um zehn Uhr, bei einem Notar in Kirchrode zu erscheinen. Die Adresse stand darunter.
»Na warte, Lukas«, flüsterte Mathilde, als sie zu Ende gelesen hatte. »Du wirst mich kennenlernen.«
Sie adressierte einen Umschlag an die Kanzlei Nössel und klebte eine Briefmarke darauf. In den Umschlag steckte sie den Ehevertrag und das Begleitschreiben, beides mehrmals zerrissen. Vorher hatte sie es noch mit Hilfe des Faxgerätes kopiert. Sie klebte den Umschlag zu und rannte zum nächsten Briefkasten. Als sie den Brief hineinplumpsen hörte, wurde ihr ein klein wenig wohler.
»O nein, mein Lieber. So läuft das nicht. Du mußt verrückt sein! Du glaubst doch nicht, daß du für diese vier Monate Ehe fast mein gesamtes Vermögen verlangen kannst? Eher müßte ich das zurückverlangen, was du Scheißkerl schon ausgegeben hast!«
Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihr entgegen, sah sie finster an und schob ihr Gefährt rasch auf die andere Straßenseite. Mathilde hielt inne. Sie hatte nicht nur laut vor sich hin geredet wie eine anstaltsreife Irre, jetzt bemerkte sie auch, daß sie im Bademantel auf die Straße gelaufen war.
Der Boxsack, an dem Treeske Lukas so oft beobachtet hatte, war wie ein Symbol für ihre Beziehung. Wie zwei Boxer suchten sie abwechselnd Nähe und Distanz. Mit dreizehn hatte Treeske Hankes Tod als Liebesbeweis verstanden. Inzwischen waren vierundzwanzig Jahre vergangen, und sie wußte längst, daß Lukas nicht aus Liebe tötete. Und doch ähnelte ihre heutige Gefühlslage der von damals. Sie hatte die Verantwortung für sich selbst an Lukas abgegeben. Das war keine Frage von Stolz oder Kapitulation, es war eine Frage des Überlebens. Dabei ging es ihr gut. Die Albträume und Halluzinationen waren verflogen. Vorbei die sinnlosen Fluchtversuche vor ihrem Schicksal. Therapien, Männer, Drogen, wozu das alles? Endlich hatte sie den Mann ihres Lebens wieder, und lieber würde sie mit ihm zusammen untergehen, als ohne ihn zu leben.
Treeske konnte sich kaum erinnern, wie lange es her war, daß sie durch die Innenstadt gegangen war. Menschenmassen verursachten ihr Unbehagen, manchmal sogar Panik. Sie hatte Urlaub, und heute hatte sie die Lust überkommen, unter Menschen zu gehen, Stoffe anzufassen, Kleider anzuprobieren. Sich schön zu machen. Abwechselnd schlenderte sie durch kühle Passagen und durch die heiße Fußgängerzone, und bald baumelten zwei Tüten an ihrem Arm. Hauchdünne, kurze Sommerkleider darin. Sie würde sie nur zu Hause tragen, für ihn. Außer Haus galt es die Indizien seiner Leidenschaft zu verbergen.
Als sie vor dem neuen Eiscafé in der Altstadt die Eisbecher auf den Tischen stehen sah, beschloß sie, sich einen Platz zu suchen und ein großes Eis mit Sahne zu bestellen. Da sah sie Lukas. Er saß an einem Tisch neben dem Eingang, mit dem Rücken zu ihr, aber sie erkannte ihn sofort. Vor ihm stand ein Glas Cola und ihm gegenüber saß eine Frau, etwa Mitte Dreißig. Sie schien ihm etwas zu erklären und gestikulierte dabei lebhaft mit den Händen. Treeske blieb stehen, zog ihre Sonnenbrille aus dem Haar und setzte sie auf. Sie beobachtete die Frau, deren Locken beim Reden auf und nieder wippten, während ihr Lukas mit verschränkten Armen
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