silbrigen Blätter flüsterten. Sie versuchte, sich zu orientieren. Am besten, sie verfolgte weiter die Richtung, die sie gekommen war. Gebückt huschte sie zwischen den Bäumen hindurch, stets am Abgrund der Verzweiflung entlang. Dieser Wald schien kein Ende zu nehmen. Wahrscheinlich hatte sie die falsche Richtung eingeschlagen. Sie trat auf einen trockenen Ast, und es knackte erschreckend laut, als er zerbrach. Ein paar endlos lange Minuten blieb sie stehen, lauschte, wagte kaum zu atmen. Wieder beschlich sie dieses Gefühl, daß da etwas war, das sie lauernd beobachtete. Vorsichtig bewegte sie sich weiter. Irgendwann schien es, als würde es hinter der nächsten Baumgruppe heller. Sie befahl sich, ihr Tempo zu zügeln, doch ihr Drang, dem Wald endlich zu entkommen, war übermächtig. Vor ihr im Mondlicht glitzerte eine ungemähte Wiese. Sie konnte nicht anders – sie lief die letzten Meter. Jetzt spürte sie keinen Schmerz mehr. Schritte. Da waren Schritte.
»Stehenbleiben!«
Die Stimme kam von hinten. Wie ein gehetztes Reh sprang sie durch das hohe Gras. Dann zerschnitt ein greller Lichtstrahl die Nacht und bohrte sich in ihre Augen. Es war zu Ende.
Hauptkommissar Kreuder massierte sich die Schläfen. Er war aufgekratzt. Eine durchwachte Nacht machte ihm nicht allzuviel aus, er hatte sieben Jahre beim Kriminaldauerdienst hinter sich. Die Nachtschicht hatte er immer am liebsten gemocht. Bei einem Einsatz kam man mit dem Auto ungehindert voran, und nachts geschahen interessantere Dinge als bei Tag. Aber anstatt gegen fünf Uhr in der Früh, nach der Ablösung durch die Frühschicht, ein Bierchen trinken, und sich dann in die Stadtbahn werfen und nach Hause fahren zu können, wo das Bett wartete, würde es hier in den nächsten Stunden wohl erst richtig zur Sache gehen. Er stand auf und warf die Kaffeemaschine an. Na bitte, schon fing es an: Telefon. Es war der Einsatzleiter des acht Mann starken Sonderkommandos.
Kreuder hörte dem Mann aufmerksam zu. Gemeinsam trafen sie dann die Entscheidung, und die lautete: »Zugriff«.
Seehafer hatte Mathilde gegen Mitternacht verlassen, nicht ohne ihr mindestens dreimal das Versprechen abgenommen zu haben, ihn beim geringsten Anlaß sofort anzurufen. Mathilde war todmüde ins Bett gewankt, aber sie hatte keinen Schlaf gefunden. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Erst gegen Morgen schlief sie ein, und nun wunderte sie sich, daß es, als sie aufwachte, schon nach acht Uhr war. Sie tapste in die Küche und setzte Teewasser auf. Ihr Blick fiel auf die zwei Umzugskartons, die mit »Pfannen, Töpfe«, und »blaues Geschirr, Gewürze«, beschriftet waren. Obenauf lag der dicke Umschlag, den sie gestern aus dem Briefkasten geholt hatte.
Die Briefmarken waren ungewöhnlich. Kein Wunder, sie stammten aus Singapur. Sie öffnete den Umschlag. Ein Haufen bunter Prospekte landete auf dem Tisch. Mathilde las das Anschreiben:
Deutsche Europäische Schule Singapur
German European School Singapore
72 Bukit Tinggi Rd
Singapore 289760
SINGAPORE
Tel.: (0065) 64691131
Fax.: (0065) 64690308
E-Mail:
[email protected]Sehr geehrte Frau Degen,
bitte verzeihen Sie meine etwas überraschende, schriftliche Kontaktaufnahme. Von meinem Jugendfreund Ingolf Keusemann weiß ich, daß Sie eine hervorragende Lehrkraft in den Fächern Mathematik und Physik sind und bei Ihnen derzeit der Wunsch nach einer beruflichen Veränderung besteht.
Die Deutsche Europäische Schule Singapur ist eine von der Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) anerkannte deutschsprachige Privatschule im Ausland mit deutschem Schulziel, die zur Reifeprüfung führt und die Berechtigung hat, Realschul- und Hauptschulzeugnisse auszustellen.
Sie wurde 1971 von der Vereinigung Deutsche Schule Singapur gegründet.
Wir suchen dringend zum September 2005 eine deutschsprachige Lehrkraft in Mathematik und Physik für die gymnasiale Oberstufe (Sekundarstufe II).
Möglich wäre auch, ein Wahlfach Spanisch anzubieten. Falls Sie sich noch für keine andere neue Stelle entschieden haben und über gute Englischkenntnisse in Wort und Schrift verfügen, würde ich Ihnen gerne ein verbindliches Angebot für einen unbefristeten Vertrag unterbreiten. Wie Sie aus dem beiliegenden Material ersehen und auf unserer Homepage nachprüfen können, sind wir eine moderne Schule, die technisch und personell hervorragend ausgestattet ist. Selbstverständlich bieten wir Ihnen an, unsere Schule vorher zu besichtigen und mit uns