Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Seehafer setzte eine rhetorische Pause. »Und das muß eine Menge sein, wenn er dafür lieber einen Totschlag gesteht. Daß ihm der Richter diese Version dann nicht abnehmen würde, konnte er ja nicht vorhersehen.«
»Einen Totschlag, den er womöglich nicht einmal begangen hat«, ergänzte Mathilde.
»Das«, entgegnete der Kommissar grinsend, »wäre nun wirklich eine Ironie des Schicksals.«
Mathilde schaute aus dem Fenster. Die Lichter der Stadt erhellten den Nachthimmel.
»Was geschieht jetzt?« fragte sie.
»Laut Kreuder haben sie die Hütte inzwischen geortet. Sie werden ihn beobachten, falls er sich dort aufhält. Erst wenn tatsächlich eine Geiselsituation vorliegt, wird das große Besteck aufgefahren.«
»Warum nehmen sie ihn nicht gleich fest?«
»Weil er dann sicher nicht sagen wird, wo sich Frau Kittelmann befindet. Wir verfügen lediglich über rechtsstaatliche Mittel, um jemanden zum Reden zu bringen.«
»Fast möchte man sagen: leider«, bemerkte Mathilde zynisch. »Und was bedeutet ›das große Besteck‹, wenn ich fragen darf?«
»Daß ein Sonderkommando vom SEK eingesetzt wird.«
Das Wasser wurde zusehends kälter, aber das lag womöglich daran, daß sie keine Wärmereserven mehr hatte. Ihr Blick wanderte zum Himmel. Es war sternenklar. Sie trug keine Uhr, aber sie schätzte, daß es auf Mitternacht zuging. Auf keinen Fall konnte sie noch länger in diesem Teich ausharren. Ihre Haut fühlte sich an wie ein Schwamm, an manchen Stellen ihres Körpers hatte sie gar kein Gefühl mehr. Sollte sie riskieren, den Wald zu verlassen und zu versuchen, bis zum Morgengrauen die Straße zu erreichen? Aber was, wenn er immer noch im Wald nach ihr suchte? Vielleicht benutzte er ein Nachtsichtgerät, vielleicht wußte er längst, wo sie war und lauerte da oben wie ein geduldiges Raubtier auf sie? Aber selbst wenn sie bis zum Morgen wartete – wer garantierte ihr denn, daß sie ihm dann nicht in die Arme lief? Möglicherweise war das mit dem Spiel nur eine Lüge gewesen. Mit einem Schmatzen gab sie der Modder frei, und sie robbte ans feste Ufer. Eine Schlammschicht haftete an ihrem Körper. Vielleicht eine gute Tarnung. Sie fror, ihre Glieder waren steif, und die Muskeln an Waden und Füßen fingen plötzlich an zu brennen und zu kribbeln. Sie biß die Zähne aufeinander und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Es ging vorbei. Sie bewegte die Beine, trat auf der Stelle. Ihre unbrauchbaren Schuhe hatte sie im Tümpel verloren. Der Mond war von hier aus nicht zu sehen, aber es war hell genug, daß sie ihre Umgebung erkennen konnte. Sie bewegte sich langsam und so leise wie möglich. Ihre wund gelaufenen und nun aufgeweichten Fußsohlen machten jeden Schritt zu einer Qual. Aber sie mußte nur an diesen furchtbaren Menschen denken, an das Gefühl, einem perversen Geist hilflos ausgeliefert zu sein, um den Schmerz zu überwinden und voranzukommen. Meter für Meter kämpfte sie sich den steilen Hang hinauf. Immer wieder hielt sie inne, um zu verschnaufen und zu horchen. Der Wald war voller Geräusche, und es war nicht auszumachen, welche Laute von Natur und Tierwelt stammten und welche vielleicht ein Mensch verursachte. Ein Tierschrei gellte durch die Nacht. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Aber dann war wieder alles ruhig, und sie kroch weiter nach oben. Mit den Händen suchte sie nach Wurzeln und Ästen, um nicht abzurutschen. Der verletzte Finger erwies sich dabei als hinderlich. Wann immer sie mit ihm versehentlich gegen etwas stieß, drang ein erstickter Schmerzensschrei aus ihrer Kehle. Der Aufstieg war anstrengend, aber wenigstens war ihr jetzt nicht mehr kalt. Sie spürte, wie allmählich Leben und Kraft in ihre Muskeln zurückkehrten, und mit der Kraft ein verhaltener Optimismus . Ich kann es schaffen, ich kann es schaffen . Dieser Gedanke wurde ihr Rettungsring.
Der kritische Augenblick rückte näher, noch wenige Meter war sie von der Kante entfernt. Angst legte sich wie eine kalte Klammer um ihr Herz, und sie hatte das Gefühl, daß dort, im Dunkeln, unsichtbare Augen sie beobachteten. Sie erneuerte ihren Schwur vor sich selbst und vor Gott, an den sie allerdings schon lange nicht mehr so richtig glaubte: Wenn ich das heil überstehe, dann ändere ich mein Leben. Sie erreichte ebenen Boden, kroch auf allen vieren weiter bis zu einem dicken Baumstamm, in dessen Schatten sie sich aufrichtete. Die Mondsichel schob sich hinter einer Wolke hervor, ein lauer Wind zupfte an den Baumkronen, die
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