Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Direktor Keusemann und grinste dabei.
»Aber es war schon eigenartig. Ohne die Handschellen hätte man ihm gar nichts angesehen«, berichtete Mathilde.
Leona legte die Hände mit den langen, grellorangefarbenen Fingernägeln an den Mund und riß die Augen betont weit auf. »Was denn? Er trug kein Kainsmal auf der Stirn und hatte keine glühenden Augen?«
»Blödsinn.«
»So abwegig ist das nicht«, sagte Jens Ostermann, der Schulpsychologe, und da er bis jetzt geschwiegen hatte, bekamen seine Worte auf einmal übermäßig viel Gewicht. Alle Blicke richteten sich auf sein bleiches Pferdegesicht, als er erklärte: »Hirnforscher haben bei Psychopathen meßbare Funktionsdefizite des Frontalhirns nachgewiesen. Sie sind sogar erblich.«
»Ach«, bemerkte Mathilde. »Ich dachte immer, die Mütter sind an allem schuld. Jetzt ist es das Frontalhirn.«
»Wenn es an der Hirnstruktur liegt«, fragte Florian, »könnte man es dann operieren?«
»Nein«, antwortete Jens. »Weder operieren noch therapieren. Psychopathen sind und bleiben Psychopathen.«
»Das klingt, als hätten diese Leute gar keinen freien Willen.«
»So ist es. Sie sind determiniert durch ihr Gehirn. Aber das ist bei uns allen so, das behauptet zumindest die Forschung in jüngster Zeit. Es gibt keinen freien Willen. Wir glauben nur, daß wir frei entscheiden. In Wirklichkeit hat unser Gehirn längst für uns entschieden.«
»Auf welcher Grundlage denn?« fragte Mathilde.
»Aufgrund unserer sozialen und biologischen Wurzeln«, antwortete Jens, und Mathilde grübelte: Was ist schiefgelaufen bei meiner Sozialisation, daß ich mich zu einem Mörder hingezogen fühle? Oder gibt es ein schwarzes Schaf in meiner Ahnenkette?
»Was ist denn der Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Mörder und einem Psychopathen?« wollte Brigitte Keusemann wissen.
»Grob vereinfacht: Zum Mörder wird man, ein Psychopath ist man«, erklärte Jens und präzisierte sogleich seine Aussage: »Psychopathen kennen von klein auf weder Mitgefühl noch Schuld. Nur Selbstmitleid. Sie lügen und betrügen und nehmen sich, wovon sie glauben, daß es ihnen zusteht. Sie sind beziehungsunfähig. Aber das herausragendste Merkmal ist: Sie sind furchtlos. Weil sie schon als Kinder keine Angst vor Strafen haben, entwickeln sie kein Gewissen. Aufgrund ihrer Furchtlosigkeit rechnen sie auch nie damit, gefaßt zu werden. Und wenn das doch passiert, dann sind sie beim nächstenmal trotzdem davon überzeugt, daß es gutgehen wird.«
Nach dieser langen Rede hatten seine Wangen ein wenig Farbe angenommen.
»Das hört sich eher nach einem Konzernmanager an«, fand Florian.
»Stimmt, es muß nicht immer kriminell enden. Helden und Draufgänger sind aus einem ähnlichen Stoff.«
»Das war mein Stichwort«, sagte Florian. Er stand auf und trug die leere Weinflasche in die Küche, wobei Leona selbstvergessen auf seinen Hintern starrte.
»Wenn man Gewalttätigkeit im Gehirn nachweisen kann, dann könnte man diese Leute doch … nun ja … sicher verwahren? Vorsorglich …«, überlegte Ingolf Keusemann laut.
»Die Idee ist nicht neu. Schon seit über hundert Jahren schneiden Hirnforscher Verbrecherhirne in Scheiben. Aber der biologische Defekt ist nur eine Ursache. Erziehung und soziales Umfeld spielen schon auch eine Rolle«, schränkte Jens ein.
Doch Ingolf Keusemann ließ sich nicht so leicht von seinem Gedanken abbringen. »Wenn jemand eine gefährliche Infektionskrankheit hat, wird er in Gewahrsam genommen, das ist Gesetz. Zum Schutz der Allgemeinheit wird die Freiheit des einzelnen beschnitten. Angenommen, irgendwann ist man mit der Diagnostik so weit, daß man einen gefährlichen Psychopathen zweifelsfrei identifizieren kann, ist es dann nicht ebenso angebracht, die Allgemeinheit vor dieser Gefahr zu schützen?«
Jens zuckte die Schultern. »Wer weiß, was in zehn Jahren sein wird?«
»Am besten, man checkt sie alle gleich bei der Einschulung«, meinte Mathilde, und Brigitte Keusemann, taub für Ironie, stimmte ihr lebhaft zu.
»Mama, halt mal kurz meine Schultüte, ich muß noch zum Kernspin«, witzelte Leona und schlug vor: »Dann müßte man nur noch so etwas wie Vorsorgeknäste bauen.«
»Allerdings«, stimmte ihr Jens zu. »Denn wir reden hier von etwa fünf Prozent der männlichen Bevölkerung.«
»Was, so viele verkorkste Kerle laufen herum?« rief Leona entsetzt.
»Mehr oder weniger verkorkst, ja. Bei Frauen ist es übrigens nur ein Prozent.«
»Woher wissen Sie so gut
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